Der Marxismus ohne Maske im NKWD-Lager Tost

Ein Zeitzeugenbericht

»Tötet, tötet, tötet. Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, nicht die Lebenden und nicht die Toten. Befolgt die Weisung des Genossen Stalin. Zertretet das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht den Rassehochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als eure rechtmäßige Beute, tapfere Rotarmisten. Tötet, tötet, tapfere stürmende Sowjetkrieger.«
Diese brachiale Kampfansage ist in einer vom 2. Oktober 1962 durch den Düsseldorfer Notar Dr. Emil Albracht beglaubigten eidesstattlichen Erklärung niedergeschrieben. Auch wenn der vermeintliche Verfasser dieses Aufrufes – Schriftsteller Ilja Ehrenburg – zeitlebens die Urheberschaft abgestritten hatte und bis heute keine qualifizierte Quelle für die Echtheit dieses Zitates vorgelegt wurde, deckt sich dieser Appell doch in seiner inhaltlichen Aussage mit der Vorgehensweise der sowjetischen Armee sowohl während als auch nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges.
Ein authentisches Bild über die Begebenheiten und Zustände innerhalb der von den sowjetischen Streitkräften kontrollierten Gebiete in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die durchaus den Marxismus ohne Maske repräsentieren, liefert der nachfolgende Zeitzeugenbericht mit ganz persönlichen sowie tragischen Einblicken in die Jahre 1945 und 1946. Dieses Zeitzeugnis wurde, neben weiteren schicksalhaften Schilderungen, im Buch »Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg« des Autors Friedrich Pfad veröffentlicht.

Einleitung

Bereits während der Kriegszeit war die deutschstämmige Bevölkerung innerhalb der von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (kurz: UdSSR) kontrollierten Gebiete folgenschweren Repressionen und Deportationen ausgesetzt. Zu deren Ausmaß merkte Dr. Kerstin Armborst in ihrem 1999 erschienenen Buch »Ablösung von der Sowjetunion – Die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987« an:

Nach Schätzungen sind von den zwischen 1941 und 1945/46 Deportierten etwa 300.000 Menschen bei ihrer Deportation umgekommen.

(Quelle: Kerstin Armborst, Ablösung von der Sowjetunion, München, 1999, S. 40.)

Eine genaue Todeszahl oder gar Gesamtsumme der Deportierten zu bestimmen, ist auf Grund der Kriegswirren unmöglich und die sich hinter dieser Anzahl verbergenden Schicksale lassen sich nur schwer erahnen. Deshalb soll – stellvertretend für viele andere Betroffene – die Geschichte eines Mannes im Mittelpunkt stehen, der die Repressionen und anschließende Deportation durch die sowjetische Militärregierung innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone (kurz: SBZ) überlebt hat und seine niedergeschriebenen Erlebnisse aus dieser Zeit der Prinzessin von Isenburg zur Verfügung stellte. Es ist die Geschichte des aus Annaberg im Erzgebirge stammenden Otto Riedel, der dort auch das Kriegsende und die unmittelbare Zeit danach mit seiner Familie verbrachte. Eine regionale Besonderheit dieser Phase beschrieb Dr. Lenka Adámková 2011 im Buch »›… schrecklich fremd, dennoch anziehend‹ (Škvorecký) – Zum Bild des Rotarmisten in ausgewählten Texten der tschechischen und (ost)deutschen Literatur nach 1945«:

Aus bis heute unbekannten Gründen drangen am Kriegsende die Westalliierten nur bis zum westlichen Rand des Kreises Schwarzenberg (Erzgebirge) vor, die Rote Armee blieb in Annaberg stehen.

(Quelle: Lenka Adámková, »… schrecklich fremd, dennoch anziehend« (Škvorecký), Frankfurt am Main, 2011, S. 43.)

Annaberg war somit unter sowjetischer Kontrolle und ihre Bewohner – darunter Riedel und seine Familie – waren folglich der direkten Gefahr ausgesetzt, Opfer der Repressionen seitens der Roten Armee zu werden. Jedoch fanden sich, wie Adámková weiter ausführt, auch Deutsche unter der hiesigen Bevölkerung, die in der sowjetischen Besatzungsmacht Vorteile sahen:

Die sowjetische Kommandantur, die in Annaberg stationiert war, suchten die Mitglieder des Antifa-Ausschusses zum ersten Mal am 16. Mai auf.

(Quelle: Lenka Adámková, »… schrecklich fremd, dennoch anziehend« (Škvorecký), Frankfurt am Main, 2011, S. 43.)

Über diesen »Antifa-Ausschuss« wusste wiederum Achim Kilian 2001 im Buch »Mühlberg 1939-1948: Ein Gefangenenlager mitten in Deutschland« – unter der Bezeichnung »rote KPD-Milizen« – genauer zu berichten:

Im Mai 1945 begannen »rote KPD-Milizen« im noch unbesetzten Kreis Schwarzenberg und anderswo damit, SMERSCH und NKWD »zuzuarbeiten«: […]

(Quelle: Achim Kilian, Mühlberg 1939-1948, Köln, 2001, S. 246.)

Diese Antifaschisten waren also Milizen der Kommunistischen Partei Deutschlands (kurz: KPD), die mit den beiden – für die sowjetische Besatzungszone zuständigen – Geheimdiensten SMERŠ und NKWD der Sowjetunion zusammengearbeitet haben.
»Die Hauptverwaltung Spionageabwehr ›Smersch‹ hatte die Funktion der militärischen Abwehr und unterstand dem Volkskommissar für Verteidigung Stalin«, ist aus dem 2009 erschienenen Buch »Die sowjetischen Geheimdienste in der SBZ/DDR von 1945 bis 1953« der beiden Autoren Jan Foitzik und Nikita W. Petrow zu entnehmen. Daneben »gab es das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (kurz: NKWD) unter Berija, das über die Inneren Truppen, die Truppen zum Schutz des Hinterlandes der Roten Armee, die Gefängnisse, die Lager und die Miliz verfügte.« Die konkreten Funktionen dieser beiden Organisationen waren gemäß Foitzik und Petrow:

Während die Abwehr »Smersch« nur in den Truppenteilen und Verbänden der Roten Armee wirkte und für deren Sicherheit sorgte, gegen »Verrat« und gegen feindliche Agenten in der Truppe zu kämpfen hatte, war es die Aufgabe der unmittelbar den Kampfverbänden folgenden NKWD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes, umfassende Razzien durchzuführen und alle »verdächtigen und feindlichen Elemente« festzunehmen. Die Einheiten des NKWD hatten außerdem in den besetzten Gebieten die öffentliche Ordnung zu gewährleisten und das sowjetische Besatzungsregime aufrechtzuerhalten. Natürlich unterstützten sich beide Dienste gegenseitig, aber erst mit Einrichtung des Postens eines Bevollmächtigten des NKWD bei den Fronten der Roten Armee wurden ihre Aktivitäten auch offiziell zusammengefaßt.

(Quelle: Jan Foitzik; Nikita W. Petrow, Die sowjetischen Geheimdienste in der SBZ/DDR von 1945 bis 1953, Berlin, 2009, S. 13.)

Somit stellten sich die Milizen der KPD in den Dienst zweier sowjetischer Geheimdienste, deren – wenn auch eigenständige – Aufgabe es war, sowohl gegen feindliche Elemente innerhalb der Roten Armee als auch in der sowjetischen Besatzungszone vorzugehen. Für Otto Riedels Schicksal sollte vor allem das Vorgehen des NKWD relevant werden. Über dieses hielten die Autoren Foitzik und Petrow in ihrem Buch weiter fest:

Ursprünglich wurden alle Personen, die von den Apparaten der Frontbevollmächtigten des NKWD festgenommen oder verhaftet worden waren, in die UDSSR transportiert. Doch angesichts ihrer Vielzahl wurde beschlossen, sie in Deutschland selbst unterzubringen. Mit NKWD-Befehl Nr. 00461 vom 10. Mai 1945 begann die Einrichtung von Gefängnissen und Lagern bei den NKWD-Frontbevollmächtigten.

(Quelle: Jan Foitzik; Nikita W. Petrow, Die sowjetischen Geheimdienste in der SBZ/DDR von 1945 bis 1953, Berlin, 2009, S. 14.)

Das NKWD war somit für Verhaftungen sowie für die Einrichtung und den Betrieb von Gefängnissen und Lagern zuständig. Riedel selbst war in den ersten Nachkriegsmonaten in den NKWD-Lagern Bautzen, Tost und Graudenz interniert.
Mit der Internierung im NKWD-Lager Graudenz war für Otto Riedel die Zeit der Gefangenschaft allerdings noch nicht zu Ende. So saß er anschließend – bis ins Jahr 1950 – in den Strafanstalten Neubrandenburg, Buchenwald und Waldheim in Haft. Während seiner Waldheimer Zeit verurteilte ihn die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Chemnitz am 19. Mai 1950 auf Grundlage des im »Kontrollratsgesetz Nr. 10« enthaltenen Straftatbestandes »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu 25 Jahren Zuchthaus sowie zu 15 Jahren Vermögenseinziehung und Sühnemaßnahmen, »weil er als Angehöriger der Wehrmacht des Wehrbezirkskommandos Annaberg im Osteinsatz war und dadurch die Gewaltherrschaft wesentlich unterstützt haben soll.« Die ihm auferlegte Zuchthausstrafe verbüßte Riedel in der Strafanstalt Brandenburg, von wo aus er – auch mit Hilfe seiner Schwiegertochter Gertrud Riedel – diverse Versuche für eine Begnadigung unternahm. Erst in einem auf den 24. August 1954 datierten Schreiben »hat der Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, die Strafe gnadenweise auf 10 Jahre herabgesetzt.« Wie die Präsidialkanzlei weiter mitteilte, sei die Zuchthausstrafe unter »Zugrundelegung der reduzierten Strafe« am 12. Mai 1955 zur Hälfte verbüßt, woraufhin sich Gertrud Riedel erkundigte, warum die Internierungszeit nicht angerechnet werde. Infolgedessen verwies die Präsidialkanzlei in ihrem Antwortschreiben vom 28. April 1955 darauf, daß deren nachträgliche Anrechnung den gesetzlichen Bestimmungen widerspreche.
Entgegen aller Erwartungen, wurde Riedel am 31. Dezember 1955 – nach 10 Jahren und 7 Monaten Haft – vorzeitig aus der Strafanstalt Brandenburg entlassen. Die ersten 7 Monate seiner neu gewonnenen Freiheit verbrachte er innerhalb des Machtgefüges der DDR, bis er sich schlussendlich am 2. Juli 1956 in die BRD absetzte und in Hildesheim ansässig wurde.
In dieser Zeit verfasste er auch den nun folgenden Erlebnisbericht, der seine Internierungszeit in Bautzen, Tost und Graudenz auf eine sehr menschliche und ungeschönte Art veranschaulicht, die sich ein Mensch – der diese Gefangenschaft mit all seinen bolschewistischen Gräueltaten nicht selbst miterlebt hat – kaum vorzustellen vermag.

Otto Riedel – ein Zeitzeugenbericht

Die Verhaftung

Am 1. Juni 1945 bekam ich von der Stadtverwaltung Annaberg im Erzgebirge eine Karte mit der Aufforderung, mich dort am 2. Juni 1945 um 9 Uhr zu einer Befragung einzufinden. Ich hatte die erste Nacht in unserer neuen Wohnung geschlafen, da ich meine Dienstwohnung in der Volksschule zu Annaberg kurzfristig räumen musste.
Unsere Töchter, die Älteste und die Jüngste, hatten den 2. Juni 1945 als ihren Hochzeitstag festgesetzt. Die Aufgebote dazu hingen im Annaberger Rathaus aus. Da ich infolge meiner schweren Verwundung noch an zwei Stöcken ging, begleitete mich mein Sohn zu der »Befragung« ins Rathaus. Dort angekommen, wurde ich in die Polizeiwache geführt, wo bereits einige mir bekannte Offiziere des Wehrbezirkskommandos-Annaberg anwesend waren. Mein Sohn musste auf dem Marktplatz warten. Desgleichen warteten Volkssturmmänner jeden Alters auf eine »Befragung«. Bald kam ich in das Dienstzimmer des Polizeioberleutnants D., der die neu gegründete Volkspolizei der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands schulte und in voller Uniform da saß. Es waren ferner noch vier sowjetische Offiziere anwesend. Man befragte mich zunächst, wo sich die Akten des Wehrbezirkskommandos befänden. Als ich wahrheitsgemäß berichtete, daß alle Akten befehlsgemäß eingestampft wurden, sagte mir der Dolmetscher, daß die Geheimakten doch zu den Offizieren und Unteroffizieren des Wehrbezirkskommandos verlagert wurden. Darauf erwiderte ich, daß es doch bekannt sei, daß ich erst seit Februar 1945 Dienst in der Suchkartei des Wehrbezirkskommandos getan habe, an der Verladung des Aktenmaterials infolge meiner Verwundung selbst nicht teilgenommen habe und nur bekunden kann, daß alle Akten- und Panzerschränke restlos geleert wurden. Hierauf wurde ich weiter befragt, ob ich in Sowjetrussland gewesen sei. Ich bejahte, da auch dies bekannt war und darauf teilte man mir mit, daß ich verhaftet sei. Ein großer Zorn überkam mich, zwei Stunden vor der Trauung unserer Kinder, in diesem hilflosen Zustand verhaftet und den Sowjets ausgeliefert zu sein. Ich sagte ganz unverhohlen meine Meinung und als ich heftiger wurde, fragte mich ein sowjetischer Offizier, was ich noch zu sagen habe. Der Dolmetscher übersetzte meine Antwort und ich musste versprechen, daß ich mich um 19 Uhr im Gefangenenlager einfinden werde. Ich ging mit meinem Sohn in unsere Wohnung zurück und von meinen Angehörigen befragt, sagte ich diesen, daß es sich bei der »Befragung« um eine Wohnungsangelegenheit gehandelt habe. Ich wollte die Doppelhochzeit unserer Kinder nicht stören. Knapp 10 kostbare Stunden hatte ich noch Zeit!
An eine Flucht war nicht zu denken. Denn weder mein Zustand noch die Verpflichtung meinem alten Vater, meinem Sohne sowie den Schwiegersöhnen gegenüber ließen das zu, da diese dann eventuell als Geiseln für mich festgenommen würden. Mit welchen Gefühlen ich aber dann an der Trauung unserer Kinder teilnahm und mich zudem noch im Kreise von Frau, Eltern und Kindern aufhielt, wird jeder ermessen können, der diese Zeilen liest. Eine Flucht, ganz gleich wohin, konnte ich und wollte ich nicht unternehmen. Ich konnte meine Frau und die Kinder nicht im Stich lassen, da die Sowjets in diesen Tagen lebhafte Jagd auf die deutschen Frauen und Mädchen machten. Ohne meine Frau wäre ich nie geflohen, denn in vielen Fällen mussten sonst die Frauen für den Mann in Gefangenschaft gehen. Hunderte solcher Schicksale habe ich erleben müssen. In diesen letzten Stunden tastete ich, Abschied nehmend, die Gesichter meiner Lieben ab. Oft stockte mir das Wort und das Essen – das ja so bescheiden war – blieb mir im Halse stecken. Die überreizten Nerven schufen visionär das Bild des »Letzten Abendmahles«, das Christus vor knapp 2000 Jahren mit seinen Jüngern hielt.
An diesem Hochzeitsabend ging mein Schwiegersohn, der Mann unserer jüngsten Tochter, der im gleichen Lazarett wie ich gelegen hatte, seine nach Annaberg evakuierte Mutter holen, die in der Nähe von uns, bei einem Arzt zur Untermiete wohnte. Als er ging, stand ich am Fenster und sah, daß er auf der Straße von zwei Sowjets angehalten wurde und es somit Tatsache war, daß meine Wohnung unter Bewachung stand. Bis heute, also 12 Jahre danach, ist unser Schwiegersohn – der damals 23 Jahre alt war – nicht mehr zurückgekehrt. Alle Nachforschungen waren ergebnislos. Um 19 Uhr schlug auch meine Stunde und ich nahm Abschied von meinen Lieben. Viele sah ich nicht mehr wieder. Verhungert! An Gram starben sie, kaum einen Sarg konnte man ihnen geben.
Das wenige Gepäck – zwei Decken und etwas Wäsche – trug mein Sohn und ich begab mich in das mit Stacheldraht umgebene, mitten in der Stadt gelegene, sowjetisch kontrollierte Gefangenenlager. Dies war das Ende des Hochzeitstages unserer Kinder und für mich der Anfang einer über ein Jahrzehnt dauernden Gefangenschaft!
In dem Lager befanden sich bereits aus dem ganzen Kreisgebiet zusammengeholte Männer, junge und alte, die ich zum Teil kannte. In dem Lager war jede Unterschlagung verboten. Am nächsten Tag – es war ein Sonntag – umkreisten unsere Angehörigen, Freunde und Bekannte von früh bis spät das Lager und meine Frau hatte es erreicht, mich noch einmal zu sprechen. Zu Essen gab es nichts. In der Nacht wurden immer noch mehr Männer eingeliefert. Am Montag früh wurden Trupps zusammengestellt und wir wurden schwer bewacht durch die Stadt zum Rathaushof geführt. Es war ein recht sonderbares Gefühl in der eigenen Heimat als Gefangener, bewacht von fremden Truppen, durch die Stadt zu marschieren. Im Rathaushof mussten wir zusammengetragene Munition entschärfen, Jagdgewehre unbrauchbar machen, Pistolen und Kleinkaliberbüchsen verpacken und Seitengewehre verladen. Die kostbaren Fahnen der Vereine wurden zerschnitten, die mit silbernen Nägeln beschlagenen Fahnenschäfte zersägt, die Büchereien der Stadt, des Realgymnasiums und des Lehrerseminares wurden verbrannt – ein sehr wertvolles Werk über Heraldik war darunter – sowie Gebet- und Messbücher vernichtet. Die alten Handschriften, die im Keller des Rathauses verlagert waren, gingen in Flammen auf. Unterschriften von Kaisern und Königen, von Bischöfen und Künstlern, Abhandlungen von Wissenschaftlern verbrannten für immer. Handschriften des Komponisten Robert Schumann und von Peter Gast wurden von den Sowjets als Zigarettenpapier verwendet. Mir schlug man, als ich einige retten wollte, meine zwei Stöcke übers Kreuz und ich stand hilflos da. Der Weg zurück ins Lager wurde für mich daher zur Qual. Vor unserem Haus brach ich zusammen und die Männer mussten mich in das Lager schleppen. Dort angekommen, erfuhren wir, daß eine Aussonderungskommission bereits auf uns wartete. Einzeln wurden wir in ein Vernehmungszimmer geführt. Ich fand bei meinem Eintritt drei sowjetische Offiziere, einen Dolmetscher und den bereits genannten deutschen Polizeioberleutnant vor, der den Sowjets über jeden von uns geeignete Angaben machte. Die Personalien wurden registriert, dabei war der Dienstgrad, den man bei der Wehrmacht hatte, die Hauptsache. Der Polizeioberleutnant sagte zu mir, daß es feststeht, daß ich in meiner Wohnung Verwundete beherbergt habe. Ich erwiderte, daß es sich in diesem Falle um meinen seit Sonnabend verschwundenen Schwiegersohn handelte. Vom Polizeioberleutnant wurde ich weiter gefragt, wo sich die Suchkartei des Wehrbezirkskommandos befände. Als ich erwiderte, daß auch diese in die Papiermühle gekommen sei, entschied man, daß ich dablieb. Alle Zivilisten, darunter alte Parteimitglieder der NSDAP, wurden an diesem Tag entlassen, um nach einiger Zeit wiedergeholt zu werden. In der Nacht dieses Sonntages wurden wir »Soldaten« in das Annaberger Gefängnis gebracht.
Mit 20 Mann auf einer Einmannzelle hockten wir am Boden. Gegen Morgen wurde mein Name aufgerufen, die Zellentüre öffnete sich und ich wurde in einen Raum geführt, in dem eine Badewanne stand. Am Tisch saß eine Frau in sowjetischer Uniform, die mir in gebrochenem Deutsch sagte, ich solle mich in die Wanne legen. Ahnungslos begann ich mich auszukleiden, sie aber schrie mich an: »Dawai, Dawai!« Ihr alkoholhaltiger Atem strömte mir entgegen. Mein Fuß schmerzte, denn ich hatte am 30. Oktober 1944 eine Verwundung erlitten, deren militärärztliche Bezeichnung lautete: »Granatstecksplitter im rechten Fuß mit erheblicher Gelenkbeteiligung«. Mein rechtes Bein war in den letzten Tagen so angeschwollen, daß ich mit diesem kaum über die Wanne kam. Ich fiel förmlich in die Badewanne, drehte mich um und sah an der Wand eine Karte von Europa hängen und über mir sah ich in die Augen dieser Frau, es waren die eines Tieres. Die Uniformierte rauchte und fragte hämisch: »Deutsches Oberkommando schlecht gekämpft?« Als ich – in dem Glauben, sie wolle mit mir ein Gespräch anfangen – erwiderte: »Viele Hunde sind des Hasen Tod«, griff sie zu einem Instrument, das wie ein Schneebesen aussah, mit dem die Hausfrauen Sahne und Eiweiß schlagen und hieb mir dieses Ding über den Kopf. Einmal, zweimal, sechsmal, immer heftiger. Ich konnte mich nicht wehren, sah nur die schlagende hysterische Frau und erwachte schließlich – in der Zelle! Die Kameraden hatten mich bereits verarztet. So erging es allen in diesen fürchterlichen Nächten. Wenn die Abendglocke vom St. Annenturm läutete, rasselten die Schlüssel und die Totenstille, die am Tage herrschte, wurde des Nachts zur Totenklage! Wir sahen vom Zellenfenster die geliebte Bergstadt liegen, wussten, daß in diesen Straßen unsere Lieben wohnten und hörten die Glocken der Heimat schlagen. Pro Tag aßen wir einen halben Liter Wassersuppe, in der einige Maiskörner schwammen, kauten mit Andacht unser tägliches Brot von 100 Gramm dazu und warteten des Nachts mit Schrecken auf die Verhöre. Eines Morgens erscholl von allen Zellenfenster ein Freudenschrei, denn der Polizeioberleutnant wurde in voller Uniform in das Gefängnis eingeliefert. Der Verräter saß nun unter den von ihm Verratenen. Im Lager Mühlberg – so wurde mir später berichtet – starb er, niemand wollte ihn beerdigen.
Ich konnte meiner Frau noch ein Kassiber folgenden Inhaltes zukommen lassen, den sie wie ein Heiligtum aufgehoben hatte:

Meine liebe Frau und Kinder!
Sorget Euch nicht um mich. Der Herrgott wird die strafen, die uns verraten haben. Ich bin noch hier. Nur wahnsinnigen Hunger haben wir. Versucht doch immer wieder, daß wir etwas Essbares bekommen, wir sind schon ganz schlapp. Viele wurden bereits erschossen. Unsere Jungen aber sollen es aufgeben, uns zu befreien. Bleibet stark im Glauben!
In Liebe Euer Vater

Ein Teil unserer Jungen, die im Alter von 12 bis 16 Jahren waren, hatten versucht, uns zu befreien. Mit List, mit Tücke, mit Bestechung, sogar mit Drohung. Arme verlassene Kinder! Noch 14 Tage dauerte die Qual im Annaberger Gefängnis, dann waren wir reif für den Abtransport.

Das Zwischenspiel in Bautzen

Am Sonnabend, den 16. Juni 1945, wurde ich aus der Zelle geholt und als Letzter auf einen bereits vollbesetzten LKW verladen. Ein 63-jähriger Baumeister, der Volkssturmmann war, ist der Einzige gewesen, den ich damals kannte. Auf der ansteigenden Wolkensteiner Straße hielt der Wagen vor unserem Haus. Ich hoffte aussteigen zu können, aber nur die Steigung war schuld, daß der Wagen hielt. Ich sah, wie zum Abschied, am Fenster meiner Wohnung eine blassblaue Hortensie stehen. Die Fahrt aber ging weiter. Auf der Höhe zwischen Wolkenstein und Wiesenbad hielt der Wagen. Die sowjetischen Soldaten formierten sich, probierten mit einigen Schüssen ihre Maschinenpistolen aus. Anschließend konnten wir aussteigen, eine Qual für mich, um unsere Bedürfnisse zu erledigen.
Es war die Zeit der sommerlichen Reife, das Korn wiegte golden, die Sonne schien warm. Wir blinzelten hinauf zu der Licht- und Wärmespenderin, sahen dem freien Fluge der Vögel zu und sandten ein Stoßgebet zum Himmel für unsere Lieben. Wir beiden Annaberger aber drehten uns noch einmal um, die geliebte Heimatstadt lag vor uns aufgebaut. Wie oft hatten wir dieses Bild einer deutschen Landschaft, das zu jeder Jahreszeit anders schön war, in uns aufgenommen. Wir nahmen die Mützen ab und grüßten still die Stadt zum Abschied. Mein Kamerad starb noch im selben Jahr. Seine Frau erfuhr erst ein Jahrzehnt später durch mich von seinem Tode.
Bei diesem erwähnten Zwischenhalt konnte ich erst einmal die anderen Männer betrachten, die versuchten mit uns in ein Gespräch zu kommen, was von den Posten brutal verhindert wurde. Beim Einsteigen aber hatten wir uns so gesetzt, daß wir zwischen den uns Unbekannten saßen. Die Straßen – auf denen nun die Fahrt weiterging – waren mir ja bekannt und so konnte ich den Männern berichten, daß wir auf Dresden zufuhren. Als ich dies sagte, wurden sie gesprächig. Einer von ihnen sagte mir, daß sie alle im Radiumbad Oberschlema gewesen sind, um vor dem Zugriff der Sowjets geschützt zu sein. Die Zwickauer Mulde, so hieß es damals, sollte die Grenze werden, da dort der 13. Breitengrad verlief. Zwischen Annaberg und Zwickau hatte man eine tote Zone geschaffen, in der auch das Radiumbad Oberschlema lag. Dort befanden sich die meisten Verwundeten. Ende Mai 1945, so erzählten mir die Unbekannten, sei ein Konvoi Autos aus Annaberg gekommen und sie seien dann in das Annaberger Gefängnis gebracht worden. Unter den sowjetischen Soldaten befanden sich auch – mit roten Armbinden versehene – deutsche Zivilisten, die von einem gewissen Oe. angeführt wurden. Als ich um die Personalbeschreibung des Oe. bat, bestätigte sich mein Verdacht. Denn es stellte sich heraus, daß dies ein ehemaliger Major des Wehrbezirkskommandos Annaberg war, der einst als Studienrat in Schwarzenberg, nach 1933 suspendiert wurde. Am 8. Mai 1945 wurde dieser von den Sowjets sofort als Schulrat für den Bezirk Annaberg eingesetzt. Inzwischen hatten mir auch die Männer ihre Namen genannt. Unter ihnen befanden sich zwei Generäle und drei Oberste, die mich baten, wenn ich wieder in die Heimat komme, doch ihre Angehörigen über ihr Schicksal zu benachrichtigen.
Das am 13. Februar 1945 sinnlos zerstörte Dresden konnten wir jetzt von der Kesselsdorfer Höhe aus sehen. Bald ging die Fahrt durch die zerstörte Stadt und in der Königsbrücker Straße – vor dem einstigen Offizierskasino – wurde Halt gemacht. Wir mussten alle absteigen und uns in einem von Ruinen umgebenen Hof mit angezogenen Beinen hinhocken. Es war sehr heiß. Der Durst quälte uns schlimmer als der Hunger. Bald wurden fünf Namen aufgerufen, die Generäle und die Oberste erhoben sich und wurden in eine Baracke geführt. Wir anderen hingen unseren Gedanken nach. Es dauerte aber keine halbe Stunde, bis die fünf Männer aus der Baracke zurückkamen. Ich konnte noch einen Gruß auffangen, bevor man sie hinter die Baracke führte. Ein sowjetischer Offizier – den Revolver in der Hand – ging hinter den Männern her, entsetzt hörten wir einige Schüsse. Die Vögel flatterten unruhig davon, eine Uhr schlug die fünfte Nachmittagsstunde an. Wir aber schauten uns entsetzt in die Augen. Die Männer kamen nicht mehr wieder. Ihre Habseligkeiten holte man von den Plätzen – sie hatten die Gefangenschaft hinter sich.
Jetzt kommen wir dran, das war unser gemeinsamer Gedanke. Das Fluidum der Gemeinsamkeit in dieser entsetzlichen Stunde erfasste uns. Wir aber mussten den LKW besteigen. In rasender Fahrt, die uns alle durcheinanderwirbelte, ging es aus Dresden hinaus. Über zerbombte Brücken hinweg fuhren wir auf Bautzen zu. Bei unserem Eintreffen in Bautzen hielt der Wagen vor dem Zuchthaus, das den Namen »Gelbes Elend« trägt. Die Posten übergaben uns lachend, wir taumelten – ganz benommen von der turbulenten Fahrt – durch den Garten der Anstalt, dem sogenannten Kreuzbau zu. In der Anstaltskirche wurden wir wieder registriert und der Rest unserer Wertsachen abgenommen. Nach dieser Aufnahmeprozedur kam ich in eine Zelle des später sogenannten »Krätzekellers«, in der sich noch acht weitere Männer befanden, die alle sterbenskrank waren. Als Erstes sagte ich: »Gebt mir was zu trinken!« und trank dann etwas, ohne zu wissen, was es war. In der ersten Nacht starben in dieser Zelle ein Mitgefangener – Volkssturmmann aus Weipert – an Magendurchbruch und ein mir Bekannter aus Annaberg, der Gärtner von Beruf war. Der Letztere war 68 Jahre alt. Zum ersten Mal erlebte ich bei diesen sterbenden Männern die Sehnsucht nach dem stillen Ende, dem Zufriedensein, wenn der Tod kommt. Bei mir aber kam der Neid über die Glücklichen auf, die lächelnd den ewigen Gefilden zu wandelten. Ich saß zwischen ihnen bis zum Morgen, eine tiefe Reue überkam mich, eine Verlassenheit, eine so traurige Hilflosigkeit, die müde machte. Aber auch eine große Gnade wurde mir zuteil. Nie mehr vergesse ich diesen Augenblick, in dem ich fühlte, wie sich eine unsichtbare Hand auf meine Schulter legte und eine Stimme zu mir sagte:

»Fürchte Dich nicht, ich bin bei Dir, alle Tage!«

Ich war hellwach und wurde froh in meinem Leid und – glaubte! Bis zum 10. Juli 1945 blieb ich in Bautzen. Keine Verhöre mehr, täglich eine Stunde Spaziergang im Hof. An den Hunger, an das Sterben ringsumher hatten wir uns gewöhnt, immer voller wurden die Säle, tolle Parolen kursierten. Aufregung, Schimpfen, Schreien, Ärger und Fluchen. Das erste Brot wurde einem Kameraden gestohlen, der Dieb war ein Kriminalrat aus Gera. Viele ließen nun ihre Maske fallen. Ich lag im oberen Saal auf einem Bürotisch, massierte meine Beine, rekapitulierte mein Leben, diskutierte mit den Männern und legte alles, aber auch alles ab, was dem Menschen ein falsches Gesicht gibt. Jeder hielt hier strenge Rechenschaft mit sich selbst ab, ging in sich und war doch außer sich, in Gefangenschaft zu sitzen. Man sah es den Menschen an, wie sie einen gewaltigen Kampf mit sich selbst ausfochten. Während der eine anfing zu glauben, verzweifelte ein anderer. In die unteren Säle brachte man die Zivilisten, und in die Zellen – die Frauen!
Eines Tages kamen 60 Jugendliche aus Königsbrück zu uns. Sie alle waren werwolfverdächtig, der Jüngste war 12 Jahre alt und so mancher war der Letzte seines Stammes. Diese Jungen hatten beim Herannahen der Sowjets die Panzersperren auf den Zugangsstraßen bei Königsbrück beseitigt, um der Stadt eine Beschießung zu ersparen und sind dafür mit ihrem alten Lehrer und der jungen Lehrerin in Gefangenschaft gekommen. Ich wunderte mich immer wieder, wie hart diese Jungen von den Sowjets angefasst wurden. Wenn nur einer von uns sagte, er sei lediglich beim Volkssturm gewesen, so musste er sich besondere Grausamkeiten gefallen lassen. Diese Jungen aber wurden zum Vorbild für uns Ältere, sie sangen oft und unterhielten die Posten – wenn kein Offizier dabei war – mit allerhand Schabernack. Sie brachten immer eine Neuigkeit mit, wenn sie einmal die Gelegenheit bekamen, im Zuchthaus zu einem Hilfsdienst verwendet zu werden.
Bald hieß es, daß wir von Bautzen fortkämen. An einem Julisonntag war es soweit. Immer acht Mann in eine Reihe gestellt, mussten wir uns unterhaken, immer wieder wurde gezählt. Auf das Fenster im Zuchthaus wurde sofort scharf geschossen, wenn sich ein Gesicht zeigte. Die Mutter eines Jungen fand dabei den Tod. Man zählte: 3’523 Männer! Es war ein Jammerhaufen, als man beim grellen Sonnenlicht in die grauen Gesichter sah. Die Jungen hatten sich gut verteilt, auch mich fasste einer unter die Arme. Ein Trompetensignal erklang, ein Tor öffnete sich und schlürfend setzte sich der Zug in Richtung Bahnhof Neschwitz in Bewegung. Auf dem großen Platz in Bautzen – auf dem der Dom St. Petri steht – der dadurch bekannt ist, daß in diesem Katholiken und Protestanten durch ein in der Mitte des Domes laufendes Eisengitter getrennt Gottesdienst halten, standen weinende Frauen, die mit unflätigen Worten der Sowjets beschimpft wurden. Der Junge, der neben mir marschierte, erzählte, daß sie in den letzten Tagen Transportzüge vorbereitet haben und in jeden Wagen einen Sack getrockneter Rübenschnitzel gelegt hätten. Das war also unsere Marschverpflegung. Der Marsch zum Bahnhof Neschwitz war lang. Viele Gefangene kippten um, wurden dann hart geschlagen, immer in die Nierengegend. Niemand aber klagte oder jammerte. In knapp sechs Wochen waren wir zu einer willenlosen Herde geworden. Hunger, Durst, Schläge und Seuchen hatten uns dazu »geformt«. 80 Männer kamen in jeden Wagen! Ein Sitzen war daher unmöglich. In den Wagen, in dem ich stand, kamen auch zehn Jugendliche.
Gegen Abend wurden die Wagen geschlossen und es entstand eine fürchterliche Hitze. Jeder rang nach Luft. Wir dachten an das Wolgalied, das uns der Trompeter in Bautzen zum Abschied gespielt hatte. Wie verrückt waren die Sowjets in dieser Nacht. Unaufhörlich klopften sie die Bretter- und Eisenteile der Wagen ab. Ein Loch, das in den Boden des Wagens gesägt war, diente als WC und war dauernd besetzt. Die zwei mit Stacheldraht vergitterten Fenster waren gleichfalls, der frischen Luft wegen, besetzt und mussten zwangsweise freigehalten werden. Die Julisonne hatte den ganzen Tag auf das Wagendach gebrannt und die zusätzliche Körperwärme der 80 Männer machte es unmöglich, auch nur einen Augenblick an Schlaf zu denken. Plötzlich wurden die Wagentüren aufgerissen und die Posten brachten in jeden Wagen 2 Kanister mit Wasser. Ein einziges Geschrei! Erst starke Fäuste konnten Ordnung schaffen, denn jeder kämpfte darum, etwas vom kostbaren Nass zu erhalten. Dabei fiel ein Kanister um und der wertvolle Inhalt ging verloren. Die Verteilung des Restes war eine besondere Leistung, ohne Trinkgefäß oder Schöpfkelle. Jeder konnte sich einmal den Mund ausspülen und die Qualen des Durstes für Minuten vergessen! Mitten in der Nacht erfolgte eine Zählung und wir hörten schon aus den vorderen Wagen, mit welcher Brutalität diese ablief. Wir waren auf das schlimmste gefasst. Wieder wurden die Wagentüren aufgerissen, alle mussten auf die hintere Wagenseite treten. Zwei Posten mit entsichertem Gewehr erschienen, eine brennende Fackel beleuchtete gespenstisch die Szene und dann wurde jeder wie beim Hammelsprung gezählt und »sanft« auf die vordere Wagenseite befördert! Unser Wagenältester bat noch um Wasser und hatte Glück. Es wurden uns noch einige volle Kanister in den Wagen gebracht, da dieser gerade günstig stand. Wir bekamen also all das Wasser, das man aus Bequemlichkeit nicht in die weiter hinten liegenden Wagen gebracht hatte. Lange noch hörte man das zufriedene Glucksen der ausgetrockneten Kehlen. Es ist unvorstellbar, wieviel ein durstiger, fast verdursteter Mensch trinken kann. Für etliche aber war das viele Wasser ein Unglück!

Die Fahrt ins Todeslager!

Die mehrtägige Eisenbahnfahrt von Bautzen ins oberschlesische Todeslager Tost, die in normalen Zeiten höchstens 10 Stunden dauert, begann.
Die zwei Sack mit getrockneten Rübenschnitzel waren bald verzehrt, das Wasser hatte seine Wirkung getan und eine beginnende Enteritis hervorgerufen, die uns bald alle erfasste. Das Loch, das man in den Wagenboden gesägt hatte und als WC diente, reichte nicht aus. Papier war nicht vorhanden und die Taschentücher und sonstigen Lappen bald aufgebraucht. Am ersten Tag unserer Fahrt kamen wir bis Kohlfurt.
Gegen Mittag waren wir am Bahnhof Kohlfurt angelangt. Unser Wagen hielt vor einer ständig laufenden Tränkanlage für Lokomotiven, wir hörten das Rauschen des Wassers und berauschten uns an dem Genuss, der uns versagt blieb. Es war ein besonders heißer Julitag und der Durst verursachte Qualen, die grausam waren. Schlimmer aber war es, das Wasser fließen zu sehen und nicht trinken zu dürfen. Wir stopften uns die Ohren zu, um nichts zu hören. Andere bissen sich in die Hände, um durch den Schmerz das Gefühl des Durstes zu töten, wieder andere murmelten: »Herrgott mich dürstet…«. Nichts nutzte, der Durst blieb und das Wasser lief in den Sand! Gesegnet aber ist, was den Menschen hart macht. Denn wir mussten angesichts dem, was uns noch bevorstand – trotz des furchtbaren Krieges, den wir hinter uns hatten – noch härter werden, um das durchzustehen, was der Bolschewismus für uns bereithielt!
Auf dem Nebengleis stand ein mit fantastischen Aufbauten versehener Güterzug, vollbeladen mit Möbeln aller Art, Klavieren und Radios aller Marken, Autos und Motorräder aller Typen. Das Letzte aus Deutschland wurde mitgenommen. Es handelte sich um »heimkehrende« Russen mit ihren Mädchen, die während des Krieges zur Arbeit in Deutschland verpflichtet waren. Einige Wochen zuvor hatte ich es in Annaberg erlebt, wie man diese Menschen zusammentrieb, auf LKWs beförderte und wie diese Menschen aus Angst vor der Vergeltung durch ihre eigenen Landsleute, wieder von den Autos absprangen und das Weite suchten. Hier im bereits gesäuberten und menschenleeren Schlesien, war es jetzt schon schwerer, sich zu befreien. Auf unserer Weiterfahrt aber sahen wir einige Tage später – in der Nähe von Breslau – abgestellte Güterzüge, befreit von allem Ballast. Nur die russischen Mädchen standen noch mit verweinten Augen da. Die Männer, die Möbel, die Klaviere, die Radios und die Autos lagen am Bahndamm! Die Menschen tot, alles andere zerschlagen! Nur wenige der jungen Russen kamen in ihre Heimat zurück, die meisten wurden Opfer stalinistischer Vernichtungsmethoden. Einst von uns Deutschen zur Zwangsarbeit verpflichtet, wurden sie jetzt von ihren eigenen Genossen, wegen »Sabotage« am eigenen Volk während des Krieges, erschlagen und erschossen! Diese Toten aber wurden dem deutschen Volk mit zur Last gelegt. Das war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie es kein zweites gibt!
Wenige Tage zuvor sahen wir bei unserem »Halt« in Kohlfurt, wie gierig diese Menschen in der Mittagshitze das Leben genossen! Wir beobachteten, wie sie sich schamlos am hellen Tage liebten, wie sie hungrig alles aßen, was sie tranken, wie sie sich berauschten. Schamlos war es und doch verständlich nach der Zeit, die auch sie hinter sich hatten und dem Wissen, was ihnen bevorstand! Denn diese befreiten Russen kannten ja die Methoden der Vergeltung und Vernichtung! Wir aber baten, flehten und jammerten um Wasser, woraufhin man uns kurze Zeit darauf den Inhalt der Nachtgeschirre voll mit stinkender Jauche durch die vergitterten Wagenfenster goss. »Kultur« und »Menschlichkeit« feierten hier traurige Orgien. An diesem Tage starben in unserem Wagen zwei Männer, der eine auf der »Toilette« und der andere lag tot in der Ecke. Bei der an diesem Tag stattgefundenen Zählung – die wieder in der bereits geschilderten Form vor sich ging – baten wir, doch die Toten aus dem Wagen zu schaffen, was von dem Posten aber abgelehnt wurde. Später kam ein sowjetischer Offizier dazu und befahl, daß die Toten solange im Wagen zu bleiben haben, bis das Endziel der Fahrt erreicht sei, denn die »Stückzahl« müsse unbedingt stimmen. Diese Toten und auch die in den anderen Wagen blieben in dieser Hitze noch vier Tage und vier Nächte unter uns und verbreiteten einen fürchterlichen Geruch.
Erst in Liegnitz, einem weiteren Halt unseres Zuges, wurden die Toten auf das Trittbrett der Wagen gebunden – jedes Mal mitgezählt – und erst am Ende unserer Fahrt bestattet. Hier in Liegnitz kannte ich jede Straße, denn mein Geburtsort Jauer ist nicht weit entfernt. Vom Bahnhof aus sah der Ort fast unbeschädigt aus, aber nicht ein Mensch war in den Straßen zu sehen, ein unheimliches Bild einer toten Stadt! Von hier aus fuhren wir am Abend des 13. Juli ab und kamen am 14. Juli 1945, dem Tage meines Geburtstages, in meiner Geburtsstadt Jauer an. Diese Stadt war dem Erdboden gleichgemacht! Die St. Martinskirche in Jauer – an der die Schule lag, in der ich acht Jahre lernte – war eine Ruine. Die Stadt Jauer aber selbst war als Vergeltung von den Sowjets geschliffen worden, obwohl Jauer nie eine Festung war. Die katholischen Priester der Stadt und der Umgebung von Jauer wurden erschossen oder verschleppt. Hierzu bitte ich das Buch »Vom Sterben schlesischer Priester 1945/1946« von Johannes Kaps zu lesen! Die einzigartigen Steinlauben, die sich wie in keiner anderen Stadt rings um den Marktplatz zogen, wurden von den Sowjets gesprengt. Was für Gedanken aber mich bei diesem Aufenthalt in meinem so grausam zerstörten Geburtsort bewegten, gehen über das erträgliche Maß, das einem Menschen zugemutet werden kann, weit hinaus!
Über Königszelt fuhren wir auf Breslau zu. Auf der gesamten Fahrt sah ich das menschenleere Schlesien, die Felder mit hohem Unkraut boten dazu ein besonders trauriges Bild. Wir aber waren stumpf geworden, blass, unrasiert und knackten die ersten Läuse. In manchem Gesicht las man den beginnenden Wahnsinn! Auf der Umgehungsbahn – in der Nähe der Breslauer Südvorstadt – hielt der Zug und hier brach ich zusammen. Der Anblick dieser Stadt, mit der sich unvergessliche Erinnerungen verbanden, war furchtbar. Man konnte über die Ruinen bis zur Jahrhunderthalle, die erhalten war, sehen. Sonst war alles ein Trümmerhaufen – ein Meer von ausgebrannten Häusern. Die Straßen hier in der Breslauer Südvorstadt kannte ich alle, hier hatten einst Eltern und Geschwister gewohnt, die jetzt in alle Lande zerstreut waren. Auch hier in dieser einst so lebhaften Stadt war kein Mensch zu sehen, nur einige wildernde Hunde liefen umher. Armes geliebtes Schlesien. Es war zu viel für mich! Stumm standen die Männer an den Gucklöchern. Der Wahnsinn über diesen Wahnsinn ergriff uns alle. Zu spät aber war es, viel zu spät! Auf dem Gleis neben uns standen bereits umgespurte sowjetische Güterwagen. Wir alle ahnten, was uns bevorstand: Umsteigen in Richtung Russland!
Keiner sprach es aus, aber jeder ahnte, was der andere dachte: Noch einmal und diesmal als Gefangener nach Russland. Aber es kam, wie so vieles in der Gefangenschaft, ganz anders! Am Nachmittag kam eine Aussonderungskommission, geführt von einem sowjetischen Generalarzt, der einen dicken Bauch hatte und einen schwarzen Spitzbart trug. Man konnte es ihm ansehen, wie wir ausgesehen haben mussten, denn der Ekel über uns schüttelte ihn. Nach der Musterung stand fest, daß wir ausrangiert waren, unnötiger Ballast, untauglich für einen so weiten Transport nach Russland. Wir hätten besser nicht froh darüber sein sollen, denn was dann kam, war schlimmer als das, was in Russland geschah. Die am Wagen festgemachten Leichen öffneten die Augen. Tote Augen sahen in eine tote Stadt und in sterbende Männeraugen!
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir wüstes Gebrüll und Schreie von Sterbenden hörten. Alle sprangen an die Fenster und wir sahen entsetzt, wie man Jugendliche den Bahndamm entlang trieb. Es waren 20, 50, 80, 123 Jungen in Zivil, fast noch Kinder. Sie jammerten und schrien: »Lasst uns doch am Leben! Wir wollen zu unseren Eltern!« Dennoch wurden sie alle vor unseren Augen mit dem Gewehrkolben sowjetischer Schläger erschlagen! Nicht einer dieser Jungen blieb am Leben. Nie haben wir erfahren können, was der Grund für das grausame Erschlagen dieser Kinder war. Die Schläger kochten, wir hielten den Atem an, denn deutsche Jungen starben drei Monate nach Kriegsende einen entsetzlichen Tod.

Der Marsch nach Tost!

Am Morgen des 16. Juli 1945 hielt unser Zug im oberschlesischen Groß Strehlitz. Die Wagentüren wurden geöffnet, niemand aber durfte aussteigen. Eine Unmenge sowjetischer Soldaten, mongolischen Einschlages, war angetreten und scharfe Kommandos wurden gegeben. Uns aber tat die frische Luft gut. Aus jedem Wagen wurden vier Männer herausgeholt, auch ich war dabei. Mein rechtes Bein war dick angeschwollen und bleischwer. Ich fiel hin, man lachte über uns. Dann wurden die Leichen von den Trittbrettern unseres Wagens gelöst und eingesammelt. Sichtbar mussten wir die Toten vor unseren Wagen legen, der sich in der Mitte des Zuges befand.
38 Tote waren es, die auf dieser Höllenfahrt starben! Wer die einzelnen waren, konnte man nicht feststellen, denn dafür waren wir zu kurz zusammen und zu schnell kam hier der Tod! Eine Gruppe sowjetischer Offiziere kam mit Listen in der Hand und zählte die Toten. Viermal wurde gezählt. Dann begann für uns die Arbeit. Rechts dem Bahndamm entlang wurden die Toten hingelegt, immer einer nach dem anderen. Die Steine des Bahndammes wurden beiseite gescharrt, unsere Hände waren das Handwerkzeug dazu und die so entstandene Vertiefung diente den Toten als Grab! Gegen 10 Uhr – die Sonne brannte heiß – mussten alle aus ihren Wagen heraustreten. Der St. Annaberg stand in alter Schönheit vor uns. Mutter Gottes steh uns bei, denn jetzt ging der Marsch los.
In der größten Mittagshitze, mit leerem Magen und ohne Wasser getrunken zu haben, marschierten wir die 12 Kilometer lange Straße in Richtung Tost entlang. Um 17 Uhr kamen wir dort an. Die an der Straße gelegenen Häuser waren zuvor geräumt worden. Gegenseitig schleppten sich die ermatteten Männer. Auf diesem Marsch blieb fast die Hälfte der Gefangenen auf der Straße liegen. Gleichgültig, sterbensfreudig und sterbenskrank lagen sie da. Jeder vorbeiziehende sowjetische Wachmann schlug den daliegenden mit seiner Maschinenpistole auf den Rücken, immer in die Nierengegend. Bald hatten wir es herausbekommen, daß dieser Schlag ganz besonders geübt war und auch bewusst ausgeführt wurde. Der Gefangene wurde mit einem einfachen Griff in die richtige Position gelegt, der Schlag ausgeführt, Nierenbluten war die Folge und der Tod das Ende! Zwar wappneten wir uns gegen diesen Schlag, aber die sowjetischen Schläger prügelten dann noch heftiger auf uns ein und der »Erfolg« war derselbe. Am Ende dieser traurigen Kolonne fuhren Bauernwagen, auf die solche Personen geworfen wurden, die auf der Straße liegen blieben. Denn diese mussten unbedingt mit, sodass die »Stückzahl« bei der Übergabe stimmt!
Unvergesslich war der Einmarsch in Tost. Die Burgruine, die mit dem Namen des deutschen Dichters Eichendorff eng verbunden ist, war uns wie ein stiller Gruß.

Der Empfang in Tost

So trotteten wir – nur noch wenige konnten laufen – in den Hof der einstigen Landesirrenanstalt ein. Im Hof mussten wir uns mit angezogenen Beinen hinsetzen und erlebten gleich zur Begrüßung ein Schauspiel, das uns erahnen ließ, was uns hier bevorstand. Eine »Knüppelgarde« stand bereit, uns zu empfangen. Diese »Knüppelgarde« bestand aus jungen kräftigen Russen, die in Deutschland während des Krieges als Zivilarbeiter tätig waren und nun an uns ihre Bewährung zeigen sollten, um dann als würdig befunden zu werden, wieder in die Sowjetarmee eintreten zu können. Diese jungen Männer trugen Stiefel, Reithosen, ein Kosakenhemd und an Stelle des Gummiknüppels, einen solchen aus Eichenholz. Der Kommandeur war ein kleiner flinker, untersetzter, schwarzhaariger Mann im Range eines Obersten der Sowjetarmee. Unter Millionen würde ich diese Bestie von einem Menschen wiedererkennen.
Die 63 Männer, die auf dem Marsch von Groß Strehlitz nach Tost starben, wurden jetzt von den Wagen abgeladen, vor unseren Augen vollständig entkleidet und auf einen mit Stroh ausgelegten Leiterwagen mittels einer Trage geworfen. Einer klatschte dabei immer auf den anderen. Als dieser erste Akt vorbei war, kam der zweite. An der Badeanstalt war eine kleine Böschung, dort stand nur mit einer Hose bekleidet, uns den Rücken zudrehend und die Hände gefesselt, ein Mann im Alter von knapp 40 Jahren. Raschen Schrittes kam plötzlich von rechts ein sowjetischer Offizier mit der Pistole in der Hand auf den Mann zu. Er gab einen Schuss ab, der gut gezielt das Genick des Mannes traf und dessen sofortigen Tod zur Folge hatte. Uns aber rief der Offizier nur das eine Wort »Deserteur« zu. Daß auch dies eine gemeine Lüge war, habe ich erst nach fast zwölf Jahren feststellen können. Ein einwandfreier Zeuge berichtete mir, daß er sich mit einigen Breslauern – unter denen auch der Erschossene war – bei unserer Ankunft bereits in der Toster Irrenanstalt befand. Diese Breslauer Männer kamen ebenfalls als Gefangene nach Tost. Am Tag unserer Ankunft wurde der Betroffene einfach aus der Kammer Nr. 63 herausgeholt, weil er gerade an der Tür saß, um dann – als abschreckendes Beispiel – vor unseren Augen erschossen zu werden. Der Kamerad, der mir dies berichtete, saß damals neben ihm und es hätte ihn genauso treffen können, wenn die Wahl auf ihn gefallen wäre. Mit Erschauern besprachen wir die damaligen Ereignisse und der jetzt in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands wohnende Kamerad sagte mir, daß es sich bei dem Erschossenen um den ehemaligen Leiter der Breslauer Volkshochschule gehandelt habe. So klären sich auch noch nach Jahren Verbrechen auf, die an unschuldigen Menschen begangen wurden.
Kurz nachdem sich dieser Vorfall ereignete, ging erneut Unruhe umher. Es gab endlich Wasser! Wir wollten aufstehen, aber das konnte keiner mehr und so krochen wir auf allen vieren an den Bäumen entlang, um zum ersehnten Nass zu kommen. Wir tranken, wir soffen, wir grunzten und tranken immer wieder. Eine menschliche Viehherde waren wir, sonst nichts mehr. Unvorstellbar aber waren die Folgen. Denn wer diese miterlebt hat, kann sie nie mehr vergessen. Die Not kam einen so plötzlich an, daß man immer die eine Hand an der Hose halten musste, um diese sofort herunterlassen zu können. Auf Schritt und Tritt trat man in den eigenen Kot. Dann wurde wieder gezählt. Viele gaben keine Antwort mehr, weil sie bereits tot waren. Man wusste ja auch kaum, wer dort neben einem starb.
Ich saß an einer Böschung, als eine sowjetische Frau in Uniform mich in die Badeanstalt holte. Dort bekam ich eine Haarschneidemaschine in die Hand gedrückt und es kamen nun bei allen Männern die Haare vom Kopf bis Fuß herunter. Wie ein Totentanz sahen die Menschen jetzt aus – kahl, nackt und abgemagert standen sie da. Ich konnte einfach nicht mehr, zeigte auf mein zerschossenes Bein, erhielt einen Tritt, der mich auf die Lattenroste beförderte und konnte nun dem dritten Akt zusehen. Jetzt wurden viele ältere Frauen hereingeführt, die alle ohne jegliche Kleidung waren. Nun zwang man diejenigen Männer, die eine Haarschneidemaschine in der Hand hielten, den Frauen die Kopf- und auch Schamhaare abzuschneiden. Als sich die Männer weigerten dies zu tun, begann – auf einen Pfiff hin – die »Knüppelgarde« mit ihrer Arbeit. Auch ich wurde an diesem Tag fürchterlich zugerichtet, obwohl ich vollkommen unbeteiligt war. Die Frauen aber sahen nach dieser Prozedur noch schrecklicher aus als die Männer. Die blutigen Flecken am Körper zeugten davon, daß man keine Rücksicht auf die Frauen genommen hatte. Bis zuletzt blieben wir in diesem Raum und kamen erst gegen Mitternacht zur Entlausung. Zuvor hatten wir unsere Kleidung abgegeben und warteten nun auf diese. Mit einem Mal aber ging die Tür auf und wir wurden nackt über den Hof getrieben, denn unsere Kleidung war in der überhitzten Entlausungskammer verbrannt. Der Heizer wurde von der »Knüppelgarde« windelweich geschlagen, aber nicht, weil unsere Kleidung vernichtet war, sondern weil einige Lattenroste ankohlten. Man brachte uns dann in das Hauptgebäude, ich wurde der Kammer Nr. 63 zugeteilt. Es dauerte fast eine Stunde, die wir auf dem Gang – ohne Kleidung – auf den Schließer warten mussten. Vor der Tür zur Kammer las ich auf einem Schildchen, daß in diesem Raum einst 29 Betten gestanden haben. Als ich den Raum als Letzter betrat, zählte der Posten: 369! Mir wurde ein Stück Kreide in die Hand gedrückt und ich musste nun den Bestand von 369 Mann an die Tür schreiben. Dieses Amt hatte ich bis zu unserem Abtransport – der vier Monate später erfolgte – inne. Als ich dann, am 30. November 1945, zum letzten Mal die Zahl der noch Lebenden in diesem Raum an die Tür schrieb, waren es gerade noch – 99 Männer!
In der ersten Nacht hockte ich nackt am Boden und fror entsetzlich. Es war in dieser Enge nicht möglich, auch nur einmal die Beine auszustrecken. Ein einziges WC stand in diesem Saal für uns 369 Mann zur Verfügung. Ein ehemaliger Oberst der Luftwaffe erbot sich freiwillig, mit seinen Armen das WC sauber zu halten, da dies dauernd – mangels verfügbarem Wasser – verstopft war. Dieser Kamerad starb an einer Infektion, die er sich durch seine aufopfernde Tätigkeit geholt hatte. Jedes kleine Fleckchen war besetzt und bekleckert, eine fürchterliche Luft lag im Raum. Die vier Fenster – mit roter Ölfarbe bestrichen – blieben Tag und Nacht geschlossen, sodass es nie richtig hell wurde. Bald merkten wir, wer hier starb. Der Körper neigte sich zur Seite und es war zu Ende! Der Tote wurde dann an die Tür gelegt, er nahm jetzt mehr Platz weg als vorher. Als der Posten – ein Mongole – am anderen Morgen die Tür öffnete und die Toten zählte, fragte er: »Warum so wenig kaputt? Ihr alle kaputt, dann gutt! « Der Saalälteste – ein Jugoslawe, der als Nichtdeutscher seinen langen schwarzen Bart tragen durfte – sprach neben Deutsch auch gut Russisch und hat, durch sein Eintreten für uns, manche Schläge einstecken müssen. Oft wurde er vom Posten an seinem Bart gepackt und durch den ganzen Saal geschleift, wir bewunderten seinen Stoizismus. Nachdem die Toten aus der Kammer geschleift wurden, korrigierte ich den Bestand. Die Kleidungsstücke der Toten aber nahm der Posten jedes Mal an sich. Waren darunter bessere Sachen, holte dieser einen Offizier, der dann die Sachen an sich nahm und dem Posten dafür einige Zigaretten gab. Um 4 Uhr früh war Wecken, obwohl in diesen Nächten an Schlaf nicht zu denken war. Um 5 Uhr mussten alle zur Arbeit antreten, es gab einen dreiviertel Liter Suppe, die im Hof stehend verzehrt werden musste. Die Arbeitskommandos zum Gutshof und zur Autowerkstatt waren die ersten, die zur Arbeit gingen und die letzten, die wiederkamen. Das Gros aber wurde in Marschblocks zu je 500 Mann eingeteilt und zur täglichen Feldarbeit geschickt.

Das Toster Arbeitssystem

»Ruck, zuck, schneller, schneller!«, das waren die Rufe der Antreiber und der »Knüppelgarde«. Jedem Toster werden diese Rufe für immer im Gedächtnis bleiben. Man hörte diese von früh 6 Uhr bis nachmittags um 17 Uhr – und das die ganzen Monate hindurch. Der Anmarsch zur Feldarbeit war lang, oft bis zu zwei Stunden. Bei unserer Ankunft auf dem Felde mussten wir die Röcke ausziehen und sie in schnurgerader Richtung an den Feldrain legen. Kamen wir dann am Abend zurück, waren unsere Sachen alle durcheinandergeworfen und die besten Stücke überhaupt nicht mehr auffindbar. Sie wurden von den Posten gegen Wodka eingetauscht. Jeder Mann bekam eine Kartoffelfurche zugeteilt, die er nun mit den Händen roden musste. Das Unkraut war – auf Grund mangelnder Pflege – inzwischen bis zu 60 cm hochgewachsen. Niemand von den jätenden Männern durfte sich während der Arbeit setzen oder hinknien. Wehe aber dem, der ein Kräutlein vergessen hatte oder eine Kartoffelstaude beschädigte, denn dann sausten erbarmungslos die Knüppel auf den Rücken des Gefangenen. Die schwersten Strafen aber gab es für diejenigen, die ihre Hosen herunterlassen wollten, um ihre Bedürfnisse zu erledigen. Bevor dies alles nach dem gewünschten Schema verlief, starben hunderte Gefangene auf dem »Felde der Gefangenschaft«, teils vor Ermattung, zum großen Teil aber von den Sowjets regulär erschlagen. Auch diese Toten waren eine große Belastung für uns, denn wir Lebenden mussten diese wieder in die Anstalt zurücktragen, da ja die Stückzahl stimmen musste. Es gab während der Arbeit nichts zu essen und auch nichts zu trinken und man fühlte, wie die Kräfte Tag für Tag abnahmen. Die Wirklichkeit war zu grausig, denn dieses gebückte Gehen und Arbeiten in der heißen Sonne strengte bei leerem Magen und durstiger Kehle ungeheuer an. Kamen wir nach der langen Arbeitsschicht auf dem Hof der Anstalt an, gab es 150 Gramm Brot und einen Becher Wasser. Das Brot am Abend musste, wie die Suppe am Morgen, ebenfalls stehend im Hof eingenommen werden. Es gab harte Strafen, wenn Brot mit in die Kammer genommen wurde. Anschließend fand im Hof noch die tägliche Zählung statt, niemand durfte sich setzen. Zusätzlich wurden uns die Toten des Tages vor die Füße gelegt. Die einen trug man aus einem ehemaligen Luftschutzkeller nackt heraus, die anderen hatten wir von den einzelnen Arbeitskommandos mitgebracht. Alle aber wurden mitgezählt, um dann in der bereits geschilderten Weise auf den Leiterwagen geworfen zu werden, der schließlich mit seiner traurigen Last zur Kiesgrube nach Lanzendorf fuhr. Beim Aufladen der Toten zählten wir immer mit: 48, 53, 68, 69, 57 Tote jeden Tag!

Im Lager Tost starben vom 15. Juli bis zum 30. November 1945 78% der Gefangenen!

In den ersten Tagen und Wochen in Tost mussten gleich nach dem Wecken diejenigen heraustreten, die noch irgendein Stück Uniform am Leib trugen. Diese Männer und Frauen wurden damit beauftragt, die Korridore zu reinigen – nur die Hälfte von ihnen kam lebend zurück. Im wassergefüllten Keller gingen sie elendig zu Grunde! Die fürchterlichen Schreie dieser Menschen waren für uns der Morgengruß und die abscheuliche Leiterwagen-Szenerie unser abendliches Ritual. Ich selbst war nie im Keller und habe erst nach zwölf Jahren von einem Kameraden erfahren, daß man die Menschen dort an die Wände schleuderte und zu Tode prügelte.
Bei uns allen kursierten Gesichts- und Gürtelrose, Furunkulose und stinkende Phlegmonen, die wir mit dem eigenen Urin behandelten. Lediglich um ein Übergreifen der ansteckenden Krankheiten auf die sowjetischen Wachmannschaften zu verhindern, wurden – als es fast zu spät war – Medikamente ausgeteilt und ärztliche Hilfe geboten. Die medizinische Hilfe aber reichte nicht aus, denn die Ärzte bedurften selbst des Arztes. Operationen konnten aus Mangel an Instrumenten nicht ausgeführt werden. Und doch vollbrachten die deutschen Ärzte Taten, die wohl einzigartig in der Geschichte von Medizin und Chirurgie waren. Leider gab es aber auch deutsche Ärzte, die notwendige Medikamente nur dann an ihre Mitgefangenen abgaben, wenn diese bereit waren, sie gegen Brot – das sie sich selbst vom Mund abgespart hatten – zu tauschen.
Es hatte sich bald herumgesprochen, daß das sogenannte »Gutshofkommando« ein wahres Todeskommando war. Was sich dort an Scheußlichkeiten abspielte, ist es Wert, festgehalten zu werden, weil sich ein normales menschliches Hirn so etwas gar nicht ausdenken kann. Hier erlebten wir den asiatischen Bolschewismus in seiner Reinkultur. Wir sahen hier die Grenze, welche die Schöpfung zwischen der östlichen und westlichen Welt gezogen hatte! Daß diese Asiaten aber zu solchen Verbrechern an der Menschheit wurden, daran hat nur die marxistische Lehre Schuld. Ich selbst war dreimal dem »Gutshofkommando« zugeteilt und nur dem Umstand, daß ich gehbehindert war, ist es zu verdanken, daß ich Vielem entgangen bin. Der Gutshof stand unter der Leitung eines etwa 30 Jahre alten sowjetischen Veterinärs, der seinen Soldaten jeden Tag mit einer anderen Sensation aufwartete. Ich selbst habe es erleben müssen, daß Hühner eingefangen werden mussten, um sie unter Schlägen – denen wir währenddessen ausgesetzt waren – zu misshandeln. Wer dabei nicht mitmachte, flog erbarmungslos in die volle Jauchegrube! Ein anderes Mal wurde ein Fahrrad geholt, auf das ein Gefangener mit verbundenen Augen gesetzt wurde. Die Wachmänner bildeten eine Gasse, während der Fahrer von einem sowjetischen Wachmann durch die Gasse gelenkt wurde und erraten musste, von welchem er geschlagen wurde. Die Schläge wurden mit Äxten und Spaten ausgeteilt. Wer es nicht richtig erriet, wurde in rasender Schussfahrt in die Jauchegrube gelenkt! Oft stand der sowjetische Oberst dabei und amüsierte sich über die dargebotenen »Späße«! Ein weiteres sehr beliebtes »Spiel« war es, einen Gefangenen – der wahllos aus der Menge herausgeholt wurde – verkehrt auf ein Ackerpferd zu setzen und dieses im Galopp im Hof umherzujagen. Zum Abschluss jagte man das Pferd mit seinem Reiter durch eine Scheune, deren Balken besonders tief lagen und so der Reiter mit dem Kopf gegen die Balken flog. In diesem Zustand der Besinnungslosigkeit blieb er in der Scheune liegen und wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht tot war, kam er dann in den wassergefüllten Anstaltskeller. Das alles zeigte uns, daß ihnen jedes Mittel recht war, uns mit Spaß zu töten! So versuchten wir uns dagegen zu wappnen, indem wir uns lieber früh bei der Arbeitseinteilung halb totschlagen ließen, um ja nicht dem Gutshofkommando zugeteilt zu werden.
Zu Ehren der sowjetischen »Befreiungsarmee« wurde auch in Tost – wie in jeder anderen Stadt – ein Denkmal errichtet. Das »Denkmalskommando« war etwas bessergestellt, da der Arbeitsplatz mitten in der Stadt lag. An diesem ging nämlich die polnische Bevölkerung vorbei und die sollte sehen, wie gut es den deutschen Gefangenen ging und wie human man uns behandelte. Vom Entwurf bis zum letzten Steinschlag wurde das Denkmal von uns deutschen Gefangenen errichtet, um dann mit großem Pomp eingeweiht zu werden. Auch ich habe dort einige Tage mitgearbeitet, da einige Gefangene ausfielen, die wegen angeblicher »Sabotage« zuvor hart bestraft wurden. Unter großer Gefahr habe ich mit Hilfe eines mutigen Kameraden detaillierte Berichte über das Lager Tost und auch die Listen der toten Deutschen, die hier in der Gefangenschaft starben, in den Sockel des Denkmales einmauern können. Die Berichte wurden von arbeitsunfähigen Gefangenen mit eigens dazu hergestellter Tinte geschrieben. Da das Denkmal unbedingt zum Tag der »glorreichen Oktoberrevolution« fertig sein sollte, wurde zum Bau desselben auch die neuangesiedelte polnische Bevölkerung mit herangezogen, die mit eigenen Fahrzeugen aller Art – Kinderwagen, Spielkarren usw. – Sand und Steine heranfuhren. Dadurch hatten wir Gelegenheit – oft unter großer Gefahr – ein Stück Brot, eine Rübe oder etwas Tabak zu erhalten. Diese mutigen polnischen Menschen haben uns oft Lebensmittel geschenkt, indem sie diese in ihren Kinderwagen versteckten. Auf dem An- und Abmarschweg konnten wir diese dann durch schnelles Bücken herausnehmen. Hier beim »Denkmalskommando« wurde nicht geschlagen, stattdessen unterhielten sich die Offiziere und Wachmannschaften der Sowjets oft mit uns. Immer frisch rasiert und sauber gekleidet marschierten wir mit Gesang zu diesem Kommando. Einmal befand sich unter den polnischen Frauen ein katholischer Priester, dem wir von allem, was in der Anstalt geschah, berichten konnten. Ob damit unser so plötzlich erfolgter Abtransport aus Tost zusammenhing, ist wohl anzunehmen.
Auch beim »Brauereikommando« ging es humaner zu. Zwar musste zum Bau des Schornsteines jeder von uns 10 Ziegel auf einmal hoch schleppen, aber es wurde nicht zur Eile getrieben. Einige Tage hatte auch ich das Glück, bei diesem Kommando zu sein. Der sowjetische Soldat, der dieses Kommando führte, hatte ein Verhältnis mit einer Polin, die in diesem Komplex wohnte. Er übertrug mir die Aufgabe, den Eingang zur Brauerei scharf zu bewachen und beim Herannahen eines Offiziers, sofort Alarm zu schlagen. Dafür bekam ich immer zwei Pellkartoffeln mehr zugeteilt. Dieser sowjetische Soldat war wegen seiner oft unberechenbaren Handlungsweise besonders gefürchtet. An einem Tag stahl er für uns Lebensmittel zusammen, um am anderen Tag seinen Spaß daran zu haben, uns mit der Ziegellast von der Leiter zu stürzen. Auch ich war einmal in eine Situation geraten, in der ich glaubte, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Wir hatten uns an diesem Tag bereits zum Abmarsch zurück in die Anstalt fertig gemacht, als dieser Sowjet mich aus der Kolonne herausholte und mir befahl, zu einer ca. 100 Meter entfernten Eiche zu marschieren. Ich sah mich auf dem Weg zur Eiche kurz um und bemerkte, daß der Sowjet mit seiner entsicherten Maschinenpistole hinter mir herkam. An der Eiche angelangt, musste ich kehrtmachen, er stellte sich 10 Schritt vor mir auf und schoss auf mich. Er lud noch einen Streifen, ich zitterte am ganzen Körper und erkannte hellwach die Gefahr, in der ich schwebte: Nur eine Bewegung des Kopfes oder des Körpers hätte genügt, mich zu durchlöchern. Bei diesem Menschen kam die Schießwut zum Durchbruch: Das Gefühl, eine lebende Zielscheibe vor sich zu haben, reizte ihn. Noch eine Ladung sauste an mir vorbei, mein ganzer Körper bebte und ich wäre bald umgesunken, wenn mich nicht der Ruf eines Mädchens gerettet hätte. Wie auf Befehl ließ er seine Maschinenpistole sinken. Er kam zu mir heran und schnupperte an mir herum, denn ich hatte mir vor Aufregung in die Hosen gemacht, er gab mir einen Klaps und sagte: »Gutt Kamerrrad!«. An diesem Tag gestattete er uns großzügig, daß wir uns auf dem Korridor der Anstalt einmal richtig waschen konnten, was sonst – obwohl dort kaltes und warmes Wasser lief – unter strengster Strafe verboten war. Als ich aber am Wasserhahn ankam, überfiel mich als Folge der Erregung eine Schwäche, sodass man mich in die Kammer trug. Der schießwütige Soldat brachte mir ein ganzes Brot!
Von den Männern, die immer 7 Tage am Fluss Malapane zum Verladen von Kohle unterwegs waren, überlebten nur wenige, vielleicht auch niemand. Dort mussten die Kohlen auf einer sehr wackligen Bohle mit Handkarren in den Lastkahn gefahren werden und dies in einem Tempo, daß viele Gefangene zusammenbrechen ließ und sie mit der ganzen Ladung in den Fluss fielen. Immer weniger kamen von diesem Kommando zurück.
»Der Donnerstagnachmittag hinter der Eisenbahn!« Dieser Satz ist ein Begriff für jeden noch lebenden Toster. An jenem Donnerstagnachmittag waren wir an ein riesiges Feldstück gekommen. Wie auf einem Feldherrnhügel saßen die sowjetischen Posten in der heißen Sonne und sangen schwermütige Weisen. Wir aber entfernten uns durch unser Vorwärtsschreiten bei der Kartoffelernte immer weiter von den Posten. Die »Knüppelgarde« war von dem vielen Zuschlagen müde geworden und so hofften wir auf einen einigermaßen friedlichen Abend. Bei den Sowjets kreiste die Schnapsflasche, denn am Donnerstag gab es immer die Zuteilung an Schnaps für die ganze Woche. Aber alles war eine Täuschung. Weitere sowjetische Offiziere fanden sich noch ein, der Gesang wurde zum Gegröle und uns wurde unheimlich. Am Stand der Sonne und am Nachlassen unserer Kräfte stellten wir fest, daß längst die Zeit da war, um in die Anstalt einrücken zu können. Aber der Ruf: »Ruck, zuck, schneller, schneller!« erschallte unerbittlich. An diesem Donnerstag mussten wir die Kartoffeln auf ein gleichmäßiges Kommando roden, wie immer waren unsere Hände unser Werkzeug. Wehe dem Gefangenen, bei dem man noch eine Kartoffel im Boden fand, denn dann wurde diese vom Posten ausgegraben und der Gefangene musste sie mit seinem Mund aufheben. Bisher hatte man dafür Schläge bezogen. Jetzt aber kamen die betrunkenen Militärs vom Hügel aus schwankend auf uns zu und ließen jeden dritten Mann heraustreten. Auch ich war dabei. Die anderen Gefangenen mussten nun nach Fröschen und Feldmäusen graben und ein willkürlich herausgesuchtes Opfer unter den Gefangenen wurde zunächst gezwungen, einen lebendigen Frosch zu verschlucken. Gelang ihm das nicht, so wurde ihm eine lebende Maus in den Mund gesteckt. Kein Erbrechen, keine Schreie oder Schläge nutzten, das Tier musste verschluckt werden. Es wurde dem Gefangenen ganz einfach die Nase zugehalten und mit dem Stock oder Bajonett nachgeholfen! An den Folgen dieser Prozedur starben an Ekel und erstickten auf dem »Felde der Gefangenschaft« 24 Gefangene! Vierzehn Männer kamen gleich in das Lazarett, da sie andauernd erbrechen mussten. Als ich an der Reihe war, fasste ich einen schnellen Entschluss: Ich nahm die Maus gleich in die Hand, biss ihr den Kopf ab, spuckte diesen aus und schluckte den Rest herunter. So hatte ich es einmal auf einem Volksfest gesehen. Nachdem ich die Maus herunter hatte, gab man mir einen Wodka und damit spülte ich mir den Mund aus. Aber selbst heute noch – nach zwölf Jahren – kann ich weder einen Frosch noch eine Maus ohne zu erbrechen sehen. Selbst nach dieser Qual war dieser Donnerstagnachmittag noch nicht zu Ende, denn die »Sieger« und »Befreier« wollten noch eine besondere Sensation haben und für diese waren wir Gefangene natürlich gut geeignet!
Es wurde ein Feuer angemacht und Kartoffeln geröstet. Dann mussten wir uns immer zu 20 Mann hintereinander aufstellen und es über uns ergehen lassen, wie nun von hinten die Kartoffelhaken – anstelle der Kartoffeln, die wir hofften essen zu dürfen – in Richtung unserer Köpfe sausten. Die Wurfgeschosse waren zweizinkige Heugabeln, die gezielt die Köpfe der Gefangenen trafen. Wieder gab es Tote und Verletzte! Die Kartoffeln verbrannten und der fast fünf kilometerlange Heimmarsch in die Anstalt mit den Toten und Verletzten stand uns noch bevor. Es ging bereits dem Abend zu, als wir an einem Feldstück vorbei kamen, auf dem das Korn noch in Puppen stand und jeder Gefangene zwei Garben in jede Hand nehmen musste, um diese mit gestrecktem Arm bis zum Gutshof zu tragen. Nach diesem Arbeitstag konnte dies allerdings keiner mehr von uns. Auf der Straße begegneten wir weiteren Kriegsgefangenen, die in Richtung Oppeln marschierten. Daß sich unter diesen mein Bruder befand, erfuhr ich von ihm erst nach meiner Heimkehr, bei der genauen Schilderung des Tages. Wie gemäht lagen die Männer mit dem Korn auf der Landstraße, auch ich, uns war jetzt alles gleich. Lieber tot und erschlagen auf der Straße liegen bleiben, als dieses zu Tode quälen auch nur eine Stunde länger mitzumachen. An diesem Tag schaffte es nicht einer der 1’200 Männer zu Fuß in die Anstalt zurück. Nun aber folgte an Ort und Stelle ein schreckliches Massaker. Sowjetische Offiziere kamen auf Motorrädern angebraust und die eingetretene Verspätung unseres Eintreffens in der Anstalt wurde diesen so begründet, daß wir uns geweigert haben sollen, das Korn zu schleppen. Schießen, Schreien und Schimpfen waren die Folge. Es war inzwischen langsam dunkel geworden und die Sowjets waren wie verrückt, denn sie glaubten, daß wir nun abrücken werden. Leiterwagen fuhren heran und wir wurden mit dem Korn auf diese geworfen und anstatt in die Anstalt zum Gutshof gefahren. Dort wurden wir mit Wasser aus einem Hydranten begossen und auf diese Weise »aufgefrischt«. So kamen wir wieder zu Bewusstsein. Alsdann ging die Arbeit weiter, das Korn wurde noch gestapelt! Es war eine beschwerliche Arbeit, da sich fast keiner mehr auf den Beinen halten konnte. Ich schleppte mich auf den hinter der Scheune befindlichen Kornstapel, der von Scheinwerfern angestrahlt war. Die anderen Gefangenen trugen die Garben auf den hohen Stapel. Vor Hunger kauten wir dabei die Ähren. Ich setzte mich hin und als ich wieder aufstehen wollte, versagten mir meine Beine den Dienst. So fand mich der mongolische Posten, der mir daraufhin einen Tritt gab. Ich wollte mich noch festhalten, griff dabei ins Leere, das glatte Stroh versagte mir den Halt, den ich suchte und sauste folglich rückwärts in die Tiefe. Den Aufschlag spürte ich noch, das andere nicht mehr. Von der Morgenkühle, die sich in meinem Körper bemerkbar machte, erwachte ich in der Scheune. Meinen Kameraden war es untersagt, sich um mich zu kümmern. Ich wurde mit acht Tagen Essensentzug bestraft, weil ich angeblich versucht hatte zu fliehen!
In diesen Tagen brauchte ich nicht mit zur Arbeit, sondern blieb in der Kammer Nr. 63, kroch auf Händen und Füßen zum Klosett, da es mir nicht möglich war auch nur einen Schritt zu laufen. Mein Kreuz schmerzte sehr, denn ich hatte mir beim Sturz vom Kornstapel die Wirbelsäule geprellt und habe auch heute noch heftige Schmerzen an dieser Stelle, die mir aber leider kein Arzt glauben will. An dem folgenden Sonntag lagen wir 23 Gefangene in der Kammer, die anderen waren – wie an jedem anderen Sonntag – auch an diesem zur Arbeit, als die Tür aufging und der Mongole, der mir den Tritt gegeben hatte, in Begleitung des »Schießwütigen« eintrat. Ich ahnte Schreckliches. Der Mongole hatte es einfach nicht glauben wollen, daß ich noch lebte und sagte ganz harmlos zu mir: »Nun Frau war froh, daß du kaputt, doch du auch noch kaputt, dann gutt!«. Der Schießwütige schrieb, nachdem ich ihm mein geschecktes Kreuz gezeigt hatte, einen Zettel mit einem Auftrag für die Küche, daß wir 23 Mann 50 Liter Suppe bekommen sollten. Als dann die Suppe kam, mussten wir diese komplett aufessen und er amüsierte sich, wenn ein Gefangener dabei brechen musste!
An einem Sonnabendnachmittag wurde die Kammer geöffnet, 6 Posten erschienen, 40 Mann wurden abgezählt – ich war auch dabei – und wir mussten schnellstmöglich im Hof antreten. Ein eiliger Marsch durch die Toster Straßen in Richtung Lanzendorf stand uns bevor. Dort an der Kiesgrube, wo unsere Toten lagen, wurde Halt gemacht und uns unter Drohungen und Schlägen befohlen, nach den Toten mit unseren Händen zu graben. Die Köpfe der Toten untersuchte der sowjetische Wachmann selbst. Wenn sich in diesen Goldzähne befanden, so brach er diese geschickt aus dem Gebiss heraus. Der erste Tote, den ich fand, war ein Onkel meiner Frau, der in Annaberg Oberpostinspektor war und im Zweiten Weltkrieg Dienst im Volkssturm getan hatte. Mir war furchtbar zumute. Die Leichen stanken entsetzlich und waren, da sie nicht tief genug in der Erde lagen, einer schnellen Verwesung ausgesetzt, die durch die sommerliche Wärme noch begünstigt wurde. Plötzlich kamen sowjetische Offiziere auf Motorrädern angefahren, die vor unseren Augen die Wachmannschaft windelweich schlugen, den sofortigen Abmarsch befahlen, das Zahngold einsammelten und dieses brüderlich untereinander teilten. Wir aber wurden damit bestraft, daß wir 8 Tage lang bis zu 15 Meter lange Baumstämme vom Wald bis zum Bahnhof Tost schleppen mussten.

Das Toster Finale

All diese Scheußlichkeiten mögen dazu beigetragen haben, daß Ende November 1945 die Türen aufgingen, die Kranken auf die Straße geworfen und sich selbst überlassen wurden. Katholische Schwestern haben diese solange gepflegt, bis sie transportfähig waren. Einer dieser Kranken ist damals auch in Annaberg angekommen. Wir anderen aber kamen in die Anstaltskapelle, etwas mehr als 600 Männer waren von 3’500 übriggeblieben! In der Sakristei standen die Kotkübel und lagen die Sterbenden, die man noch zuletzt halb totgeschlagen hatte. Auf dem Altartisch lag ich mit noch drei Mann, das Kruzifix über mir, auf den Stufen zur Kanzel saßen und schliefen je zwei Gefangene und im Inneren der Kanzel lagen drei Jugendliche. Es gab kaum Platz für die wenigen, die übrig waren. Wir auf dem Altartisch und auf der Kanzel hatten Glück mit unserem Platz, denn in diesen letzten Toster Tagen hausten diese Bestien wie die Wilden! An eine ruhige Minute war überhaupt nicht zu denken. Andauernd kamen sowjetische Offiziere und Wachmannschaften herein und gossen ganze Tonnen Wasser in die Kapelle, sodass die Männer nicht wussten, wo sie hin hüpfen sollten. Dann kam ein Trupp von dieser stolzen Armee an den Altar. Ein sowjetischer Offizier setzte dem Gekreuzigten seine dreckige Mütze auf das gekrönte Haupt und die anderen tanzten einen wilden Kosakentanz. Dann holte sich ein sowjetischer Offizier aus dem Schrank der Sakristei ein Messgewand, zog sich dieses an, ging auf die Kanzel und hielt eine Spottpredigt, die uns in Erstaunen versetzte. Denn dabei warf er einen Jugendlichen über die Kanzel, zerriss das Messbuch vor unseren Augen und die Messgewänder wurden in den Kotkübel geworfen!
Uns nahm man alle Brillen und Prothesen ab, die Bruchbänder wurden aufgeschnitten und nach Wertsachen untersucht – das letzte Andenken wanderte in sowjetische Taschen!
In wenigen Tagen rollte der Zug ab in Richtung der Festung Graudenz! Am Bahnhof in Tost kamen aus Ratibor noch 2’900 Gefangene dazu und so stimmte die Stückzahl wieder!

Die zweite Reise: Graudenz!

Das in Sandstein gehauene Bild Mutter Gottes, das sich gegen­über dem Anstaltstor befand und von uns allen immer gegrüßt wurde, war an dem Tage – an dem sich das Toster Tor zum letzten Mal für uns öffnete – mit Herbstblumen geschmückt. Frauen standen an den Straßen, Kinder liefen mit uns, ein katholischer Geistlicher mit einem violetten Hemdeinsatz stand vor einem Hause, zählte uns und schüttelte immer wieder betrübt sein Haupt. Ein riesiges Aufgebot an neuen Wachmannschaften, die in schneeweißen Pelzmänteln aus deutschen Wehrmachtsbeständen gekleidet waren, begleitete uns zum Bahnhof. Niemand von uns hatte einen Transportzug zur Abfahrt fertig gemacht. Alle Gefangenen, die noch übrig waren, machten diese Fahrt mit, außer den deutschen Ärzten, dem Sanitätspersonal und den Gefangenen, die unsere Toten bestattet hatten. Nie wieder haben wir etwas von ihnen gehört! Verschwunden für immer in den Weiten Russlands!
Ein langer vollbesetzter und vergitterter Güterzug stand am Toster Bahnhof. Das Verladen von uns Tostern ging rasch vor sich, es wurden einfach noch einige von uns in die bereits vollbesetzten Wagen hineingepfercht. Jeder von uns war froh, die Stätte des Grauens zu verlassen. Jeder Einzelne sagte, schlimmer kann es nicht mehr kommen. Zu diesem Zeitpunkt war uns das Geheimnis bolschewistischer Methoden, das Auf und Ab in der Behandlungsweise, noch unbekannt. Der Zug setzte sich nach wenigen Stunden in Bewegung. Das Grauen, die Schläge, die Krankheiten und die Seuchen, der Tod und die Toten, die Entsetzlichkeiten und die Scheußlichkeiten, der Gestank und der Ekel, die Schreie der Gequälten und das stille Sterben der Erlösten, all das ließen wir zurück! Ein Gelübde aber legte ich ab: Komme ich einst noch einmal in die Heimat zurück, dann werde ich das Erlebte niederschreiben, werde in Deutschland auf einem hohen Berg ein Kreuz errichten lassen, auf dem nur das Wort TOST stehen soll. Den Sternen nach zu urteilen, die uns auch auf dieser Fahrt nachts die Richtung anzeigten, fuhren wir gen Osten! Wirklich fein hatte man die Wagen für diese winterliche Reise zurechtgemacht, Holzbänke ohne Lehne, darunter Steinkohlen. Wir Toster legten uns auf die Kohlen, da jeder Sitzplatz bereits besetzt war. In den Wagen aber, in denen sich Kohlen befanden, fehlte der Ofen und dort, wo ein Ofen war, gab es keine Kohlen. Es war bitterkalt! Die »Ratiborer« hatten viel getrocknetes Weißbrot mitgebracht, das wir gierig kauten. Zum ersten Mal auf dieser zweiten Fahrt hielt der Zug im Hauptbahnhof von Kattowitz! Entsetzt sahen die polnischen Menschen an diesem Sonntagmorgen in unsere Gesichter.
Die Wagentüren öffneten sich, es wurde uns vom polnischen Roten Kreuz warmer Kaffee gereicht, nachdem die Transportoffiziere den Polen gesagt hatten, daß dies der erste Transport mit kranken Kriegsgefangenen sei, der zurück nach Deutschland fährt! In dieser grässlichen Lüge war eine einzige Wahrheit enthalten, und zwar, daß wir alle krank waren! Seelisch und körperlich schwer krank! Sowjetische Ärzte und Krankenschwestern reichten uns – für alle auf dem Bahnhof sichtbar – Medikamente in den Wagen, unterhielten sich freundlich mit uns, so als ob es nie ein Tost oder Ratibor gegeben habe. Argwöhnisch nahmen wir das Dargebotene an und stellten fest, daß es sich dabei um deutsche Ware aus dem letzten Krieg handelte. Wir waren wohl der erste sowjetische Propagandazug, der in Kattowitz ankam und bei der polnischen Bevölkerung erfolgreich die Hoffnung weckte, daß nun auch bald die polnischen Gefangenen heimkehren würden.
Erst hier in Kattowitz, als Licht in den dunklen Wagen durch das Öffnen der Türen kam, entdeckte ich entsetzt in einer Ecke des Wagens sitzend vier gefesselte Frauen, unter ihnen der »Engel von Ratibor«, eine deutsche Gräfin, die mit einem Ungarn verheiratet war. Sie war die Erste, die laut auflachte und uns – da sie gut russisch sprach – über das Gehabe der Sowjets hier in Kattowitz aufklärte. Neben ihr in einem Pelzmantel saß in hochschwangerem Zustand eine Estin, die uns mahnte, nicht soviel Brot zu essen, denn es sei hier im Wagen – außer einigen Konservenbüchsen, die auch die Frauen benutzen mussten – kein WC vorhanden! Die beiden anderen Frauen waren weit über 70 Jahre alt und ohne Kopfhaar. Schon seit April 1945 waren diese Frauen als Gefangene bei den Sowjets. Alle vier wurden deshalb gefesselt mitgenommen, weil sie die sowjetische Armee beleidigt hatten. Beim Abtransport in Ratibor wollten sie auf dem Nebengleis noch einmal ihre Notdurft verrichten. Da sie dies aber mit dem Rücken zu den Wachmannschaften getan haben, wurden sie bestraft. Das war der Tatbestand! Die Gräfin und die Estin waren daraufhin in den Hungerstreik getreten. Als ich die Erzählungen der Frauen über das, was die Sowjets in Ratibor alles taten, hörte, verstummte ich, denn Tost verblasste dagegen! Die vier Frauen waren die letzten von weit über 100 internierten Frauen aus Ratibor! Den Ehemann, die Kinder sowie die Eltern der Gräfin hatte man vor ihren Augen erschossen, Haus und Hof verbrannt. Sie selbst wurde von den Sowjets über Wien nach Deutschland gebracht und arbeitete dort als Dolmetscherin. Den Ehemann der Estin hatten die Sowjets, weil er Geistlicher war, an das Scheunentor genagelt, wie seinen Herrn und Meister! Als am Abend der Zug von Kattowitz aus weiterfuhr, sagte jemand: »Heute ist der 1. Advent!«. Der Schnee lag über den Ruinen der Stadt, als unser Zug aus der Stadt hinausfuhr.
Hin und her wurde rangiert, dann stand der Zug. Die Lage wurde »gepeilt« und wir stellten fest, daß wir uns in der schwer umkämpften Festung Graudenz befanden. Der Zug hielt auf einem hohen Bahndamm. Die Frauen mussten alle im Zug verbleiben. Um zur Straße zu gelangen, mussten wir den Bahndamm heruntersteigen. Niemand von uns aber konnte das noch. Jeder kullerte also den Bahndamm herunter und unten angelangt, fielen wir in einen mit Schneematsch gefüllten Graben. Dann standen wir wieder auf, klamm und schlaff waren unsere Beine geworden, formierten uns und der unvergessliche »Propagandamarsch« durch die Stadt Graudenz begann. Die Toten dieser Fahrt wurden in den Graben gelegt, denn für eine Bestattung war keine Zeit. Ein aus Annaberg stammender Reichsbahnsekretär, 10 Jahre jünger als ich, kam in schwer erschöpftem Zustand auf mich zu. Keiner von uns brachte ein Wort heraus. Die Wachmannschaften, die den Zug von Tost bis Graudenz begleitet hatten, fuhren in den deutschen schneeweißen Mänteln in ihre sowjetische Heimat zurück. Ihre freudigen Lieder begleiteten unseren traurigen Zug. Ein sowjetischer Oberst ging kopfschüttelnd die Reihen der Gefangenen ab und befahl, daß wir langsam und ohne zu treiben, in das Festungsgefängnis gebracht werden sollen. Zu den polnischen Eisenbahnern sagte er, daß die Gefangenen in diesem Zustand nicht nach Deutschland können, sie müssen hier erst wieder zu Kräften kommen. Dieses Mal hatte er nicht gelogen, ja vielleicht glaubte er selber, daß wir Gefangene aus Russland waren. Nun, zu Kräften kamen wir hier, in der Heimat blieben wir, aber nach Hause kamen wir nicht! Schlapp, müde, verlaust, verhungert, zermürbt und stumpf trotteten wir einer nach dem anderen bis zu jener Brücke, unter der die Weichsel floss. Hier kam es zum ersten Stau. Polnische Schiffer verließen ihre Kähne und eilten den Weichseldamm herauf, polnische Arbeiter hörten mit ihren Reparaturen auf. Polnische Frauen, die auf dem Weg zur Innenstadt waren, um einzukaufen, machten wieder kehrt und kamen uns entgegen. Polnische Kinder kamen herbeigeeilt und sie alle versperrten den Sowjets den Weg, der zum Festungsgefängnis über diese Brücke führte. Temperamentvolle, verächtliche Worte schleuderten diese Menschen den Sowjets entgegen. So sagten sie sinngemäß, daß es eine Schande wäre, solche Menschen wie uns noch gefangen zu halten. Weiterhin hörten wir auch von ihnen: »Wir wollen keine Vergeltung.«, »Wir wollen diese kranken Menschen nicht in unserer Stadt! Wir wollen nicht mitschuldig werden!«
Die Arbeiter gaben uns Zigaretten, die Frauen kauften uns Brot, die Kinder gaben uns ihre Schals. Das Ganze aber stoppte, als sowjetische Offiziere auf Motorrädern ankamen und den Schießbefehl gaben! Nicht gegen uns richteten sich die Gewehrläufe, sondern gegen die polnische Bevölkerung! Die polnischen Männer schlossen sich uns an, die Frauen und Kinder aber flohen entsetzt. Der Weg über die Brücke war jetzt frei! Auch wir wurden freier, denn es gab doch noch Menschen, die instinktiv das Unrecht fühlten und impulsiv dagegen demonstrierten. An dieser Weichselbrücke starb mein Annaberger Landsmann vor Ermattung in meinen Armen. Auf dem weiteren Weg zum Marktplatz sahen wir die bereits wieder gefüllten, weihnachtlich geschmückten Läden. Man warf uns Bonbons zu. Immer mehr Menschen kamen aus den Häusern, liefen mit uns und betasteten uns, ob wir auch wirkliche Menschen sind. Sie beschenkten uns und beschämten uns damit zugleich. Die Sympathie der polnischen Bevölkerung hielt auch in den folgenden 12 Wochen, die wir in Graudenz verbrachten, an.
Ein weiteres Mal stockte der Zug auf dem großen Platz, auf dem gerade der Wochenmarkt stattfand. Hier aber wurde es ernst! Eine Glocke begann zu dröhnen, Geistliche und größere Schüler, Bauern aus dem Umland, Frauen und nochmals Frauen beschimpften und bespuckten nicht uns, sondern unsere Wächter. Sie wollten den Posten die Waffen entreißen – wir baten sie, das zu unterlassen. Plötzlich kamen LKWs mit neuen sowjetischen Soldaten als Verstärkung an, die sofort erbarmungslos in die Menge schlugen. Dieses Durcheinander haben einige jugendliche Gefangene genutzt und waren weg wie der Blitz. Sie sind, wenn auch erst nach Jahren, in ihre Heimat zurückgekommen. Hätten wir aber uns alle aufgelöst und zu fliehen versucht, so wäre ein entsetzliches Blutbad entstanden. Das alles brachte uns zwar nicht die Freiheit, aber den Erfolg, daß wir in dem Graudenzer Vierteljahr aufatmen konnten und uns dies nach den Erlebnissen von Tost und Ratibor wie ein Wunder vorkam.
Betritt man den großen Komplex des Graudenzer Festungsgefängnisses, das keinerlei Spuren des Krieges aufwies, so steht zur Linken eine Kirche, die mit 20’000 Sack bestem Brotmehl aus deutschen Wehrmachtsbeständen gefüllt war. Der große Hof machte einen sauberen Eindruck und als wir die Badeanstalt betraten, trauten wir unseren Augen nicht. Denn deutsche Soldaten und deutsche Wehrmachtsärzte kamen uns in ihren Uniformen – mit allen Rangabzeichen und Orden geschmückt – entgegen. Von den Sowjets war nichts mehr zu sehen. Wieder standen wir vor einem Geheimnis, das uns skeptisch werden ließ. Es wurde sofort angeordnet, daß wir unsere deutschen Betreuer mit dem jeweiligen Dienstgrad anzureden haben. Als diese deutschen Menschen allerdings erfuhren, wer wir waren und woher wir kamen, nicht aus Russland, sondern aus Deutschland, da schüttelten sie nur ihre Köpfe. Wir wurden gebadet, entlaust, frisch rasiert und kahl geschoren! Anschließend erfuhren wir, daß hier in Graudenz bis zu unserer Ankunft – also am 1. Dezember 1945 – seit Anfang Mai 7’500 deutsche Gefangene gestorben waren! Hinzu kamen noch über 2’000 sowjetische Soldaten und unzählige polnische Menschen. Der Grund für dieses Massensterben war eine Fleckfieberepidemie, die kranke sowjetische Soldaten eingeschleppt hatten und die nur durch das Eingreifen der deutschen Wehrmachtsärzte gebannt wurde. Als Anerkennung dafür durfte das deutsche Pflegepersonal weiterhin ihre Uniformen in der Gefangenschaft tragen. Alle Räume, die wir nun betraten, waren äußerst sauber und bestens desinfiziert. Als wir das erste Stück Brot bekamen – täglich 500 Gramm pro Kopf – glaubten wir Kuchen zu erhalten, so gut schmeckte es. Dazu gab es pro Tag einen dreiviertel Liter Suppe. Gierig sogen unsere Organe die Speisen auf, das Hungergefühl aber blieb. In die Zelle, in die ich kam, wurde auch ein Pole eingeliefert, der sich angeblich als Rädelsführer an den Widersetzlichkeiten am Tag unseres Eintreffens beteiligt haben soll. Er war der Erste, der uns über die traurigen Geschehnisse aus der Welt berichtete. Jeden Tag gestattete man uns im Hof einen langen Spaziergang. Wir konnten uns dabei unterhalten und sogar einen Abstecher in die Ambulanz machen, um die kranken Gefangenen zu besuchen und uns Medikamente zu holen.
Das Festungslazarett unterstand einem sowjetischen Oberarzt, der gut Deutsch sprach, uns Mut zuredete, für uns im sowjetischen Offizierskasino Zucker stahl und dafür nur strengste Disziplin von uns forderte. Er war es auch, der für Arbeit sorgte. Ich kam zu einem Außenkommando auf dem Flugplatz. Der Weg dorthin und zurück wurde durch die Stadt Graudenz geführt. Wir alle wurden froher und hatten alle die Hoffnung, bald in die Heimat zu kommen.
Ein mir aus Breslau bekannter Gartenbauarchitekt erzählte, warum er dort in Gefangenschaft geriet. Nach der Kapitulation der Stadt hatte er für 5’000 sowjetische Offiziere mitten in der Stadt – auf dem einstigen Tauentzienplatz – einen Ehrenfriedhof angelegt. Als diese Arbeit fertiggestellt war, wurde er mit weiteren Breslauern nach Tost gebracht. Hier in Graudenz arbeitete er gleichfalls in seinem Fach, wir stahlen ihm die Zeichenstifte und machten Kassibers, die wir der polnischen Bevölkerung zur Weiterleitung an unsere Angehörigen gaben. Nicht eines dieser Schreiben ist aber daheim angekommen. Dieser Gartenbauarchitekt starb hier in Graudenz einen grässlichen Tod. Er wurde bei einem Fluchtversuch ertappt, man stellte ihn in ein halbfertiges Grab, sodass nur sein Kopf heraussehen konnte. Eines Tages, als wir von der Arbeit zurückkamen, hing sein Kopf zur Seite aus dem Grab, das sich mitten im Hof der Anstalt befand, er war tot! Aus der Flucht, die auch ich mir vornahm, wurde nichts, da ich einige Tage vor Weihnachten einen Malariaanfall bekam und ins Lazarett wanderte. So kam ich zunächst auf die Isolierstation des Lazarettkellers, in der neun eiserne Feldbetten standen. Der sowjetische Oberarzt führte – gefolgt von den deutschen Wehrmachtsärzten – die Visite selbst durch. Er interessierte sich ganz besonders für meine Malaria, da es eine Tropika war. Chinin und Atebrin halfen bei dem schwachen Zustand, in dem ich mich befand, nur wenig. Stattdessen griff das Zeug meine Därme entsetzlich an. Als am ersten Tag die Visite vorbei war, kam ein deutscher Arzt zu mir, wir hatten einen gemeinsamen Bekannten, der in Tost starb. Er erzählte mir, wie sie hier in Gefangenschaft gerieten und wie stolz er war, daß auf »seiner« Station noch kein Gefangener gestorben ist. In der folgenden Nacht aber starben auf seiner Station gleich zwei Gefangene. Der eine war aus Aue in Sachsen, der andere lag tot – die Konservenbüchse mit Kaffee gefüllt am Mund haltend – in seinem Bett.
Gerade am Weihnachtsabend – dem ersten in Gefangenschaft – kam ich in den oberen Saal, der weihnachtlich mit Tannengrün und weißgedeckten Tafeln – es waren Bettlaken – geschmückt war. Im Bett neben mir lag ein Landrat aus Marienberg in Sachsen, der diensthabende Sanitäter kam aus Annaberg. An diesem ersten Weihnachtsabend hatte es der »Engel von Ratibor« erwirkt, daß die Frauen im Graudenzer Festungsgefängnis ihren männlichen Mitgefangenen eine Feierstunde bereiten durften. Zwar durften die Frauen den Saal nicht betreten und mussten bei geöffneter Tür auf dem Flur bleiben. Aber wir alle wurden von dem Mut, den die Frauen aufgebracht hatten, uns diese Feierstunde zu bereiten, tief beschämt. Denn was für einer Größe bedarf es, in Gefangenschaft zu sitzen, ein Kind zu erwarten und als Einleitung zu der Feier diese Worte zu sprechen:

Es gibt so Schönes auf der Welt,
daran du nie dich satt erquickst
und das dir immer Treue hält
und das du immer neu erblickst:
Der Blick von einer Alpe Grat,
Am grünen Meer ein stiller Pfad,
Ein Bach, der über Felsen springt,
Ein Vogel, der im Dunkel singt,
Ein Kind, das noch im Traume lacht,
Ein Sterneglanz der Winternacht,
Ein Abendrot im klaren See,
Bekränzt von Alm und Firneschnee,
Ein Lied am Straßenzaun erlauscht,
Ein Gruß mit Wanderern getauscht,
Ein Denken an die Kinderzeit,
Ein immer waches, zartes Leid,
Das nächtelang mit feinem Schmerz
Dir weitet das verengte Herz,
Und über Sternen schön und bleich
Dir baut ein fernes Heimwehreich.

(Quelle: Es gibt so Schönes, Hermann Hesse (1902))

Es war die Estin, die wir an ihrer Stimme erkannten. Es folgten einige Weihnachtslieder. Beim Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« brachen die Sängerinnen ab, in Weinen und Schluchzen ging ihr Gesang unter. Still lagen wir in unseren Betten, dachten an die Unsrigen und so mancher Mann weinte hier seit langer Zeit wieder einmal.
Am ersten Weihnachtstag in der Früh, wenn Daheim die Menschen aus der Christmesse kamen, ging unter uns im Lazarett ein Laufen und ein Krawall los, das uns aufhorchen ließ. Schreckensbleich kamen die Sanitäter in den Saal, rissen eiligst allen Tannenschmuck ab, entfernten die weißen Tischlaken. Wir aber hörten entsetzt das Jammern und Wimmern der Frauen. Eine Gruppe sowjetischer Offiziere war in die Frauenabteilung eingedrungen, hatten alles, was an Schmuck da war, abgerissen. Sie haben Bänke und Schemel genommen, wild um sich geschlagen, die Frauen auf den Flur gejagt und von ihnen verlangt, daß sie jetzt noch einmal das singen und sagen sollten, was sie uns als Freude zum Christfest am Vorabend zum Weihnachtsfest dargebracht hatten. Es folgte ein langes Schweigen. Dann begann der »Engel von Ratibor« zu reden, zu bitten, für uns kranke gefangene Menschen doch Verständnis aufzubringen. Dafür wurde sie erbärmlich geschlagen! Es war die letzte Predigt der Gräfin! Denn diese Frau verstummte plötzlich, nur die anderen Frauen weinten und jammerten, während einer der betrunkenen sowjetischen Offiziere – wie uns später berichtet wurde – auf dem Leib der tapferen Ratiborerin einen wilden Kosakentanz abhielt und die anderen Offiziere dazu im Takt klatschten. Immer wilder wurde das Getrampel. Jetzt räumten die Betrunkenen den unteren Saal aus, die Schreie der Frauen wurde immer schwächer und plötzlich ging ein Donnerwetter los. Wir hörten den sowjetischen Oberarzt schimpfen, der die Wachen zusammengerufen hatte und die betrunkenen Offiziere aus dem Lazarett drängte. Diese machten dann im Hof des Gefängnisses noch weiter wüsten Lärm und schlugen mit Steinen die Fenster der Anstaltskirche ein. Kein Mensch im ganzen Gefängnis schlief in dieser »Stillen heiligen Nacht«, in der wehrlose gefangene Frauen von betrunkenen sowjetischen Offizieren totgeprügelt wurden. Mögliche Notoperationen wurden eiligst durchgeführt. Wenn wir nun zur Ambulanz gingen, um unsere Medikamente abzuholen, mussten wir barfuß laufen. Auch die Ärzte und Sanitäter gingen in Filzpantoffeln umher, um die Sterbenden nicht zu stören. Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1945 durften wir nach dem Essen am offenen Zimmer des dort aufgebahrten »Engels von Ratibor« vorbeiziehen!
Der Tod dieser Frau und das Leiden der anderen Frauen erschütterten uns aber deshalb so sehr, weil wir glaubten, die schlimmste Zeit unserer Gefangenschaft hinter uns zu haben. All unsere Hoffnung begruben wir hier, jeder still für sich. Der gewaltsame Tod dieser Frau und der Verlust der Estin mit ihrem ungeborenen Kind zeigte uns wieder einmal eindrücklich, wie »Moskau ohne Maske« aussah!
Einer erzählte uns von dem Buch «Moskau ohne Maske», das vor 1933 erschienen ist und von einem Belgier geschrieben wurde. Nicht nur er, wir alle würden es nicht glauben können, daß »Moskau ohne Maske« so aussieht, wenn wir das Ganze hier in Graudenz nicht selbst miterlebt hätten.
An einem stillen Januarabend des Jahres 1946 kam der besagte aus Annaberg stammende Sanitätsgefreite an mein Bett und berichtete mir, daß eine baldige Entlassung bevorstehe. Wahrscheinlich werde das ganze Graudenzer Kommando der Sowjets abgelöst. Was aus den deutschen uniformierten Gefangenen aber werden würde, sei noch ungewiss. Dies waren alles Männer bis zu 40 Jahren, die mir durch meinen Landsmann den Auftrag erteilten, daß wenn ich in die Heimat kommen sollte, ihren Angehörigen Grüße ausrichten soll. Als wir dann am anderen Morgen auf die Suppe warteten, konnten wir unseren Augen kaum glauben, denn anstatt der Suppe war bereits die neue Ablösung da. Unsere bisherigen deutschen Betreuer wurden durch wild aussehende Mongolen ersetzt, die uns Kranke gleich aus den Betten trieben. Nie wieder haben wir etwas von den deutschen Ärzten und dem Sanitätspersonal sowie dem Beerdigungskommando gehört. Sie alle sind für immer im weiten Russland verschwunden. Warum? Weil sie zu viel wussten! Als »Vergeltung«, so hieß es, sei die gesamte sowjetische Besatzung von Graudenz abgelöst worden. Nur einer blieb, der sowjetische Oberarzt und dieser war unsere Rettung. Denn das, was unsere Mitgefangenen jetzt in den Zellen erlebten, übertrifft noch bei weitem die Grausamkeiten, die sich in Tost und Ratibor abspielten. Zunächst flog alles Ess- und Trinkgeschirr aus den Zellen, jeder Löffel wurde abgenommen und wir wurden kollektiv bestraft. Zum ersten Mal hörte ich das Wort »kollektiv«, weil wir angeblich mit der polnischen Bevölkerung sympathisiert hatten! Besonders hart wurde der übrig gebliebene Rest der Jugendlichen – der Jüngste war 12 Jahre alt – bestraft. Diese wurden in einem besonderen Block eingesperrt und durften nur gefesselt im Hof spazieren geführt werden. Entsetzt sahen wir die täglich bleicher werdenden Gestalten! Die ärztliche Behandlung fiel für uns ab sofort weg, die Ausgabe von Medikamenten wurde eingestellt. Die wahre Ursache aber dafür war, daß sowjetische Soldaten aller Dienstgrade im Festungslazarett behandelt werden mussten, da sie an der sogenannten «Sibirischen Syphilis» litten. Arme polnische Mädchen, dachten wir! Graudenz war jetzt in den Abendstunden zu einer stillen Nacht geworden.

Der Tanz war hier zu Ende!